Adelbert Süssli – «Gussteile zeichnen war meine Spezialität»
Text & Bilder: Irina Brandenberger und Yann Lengacher
Saurer-Lastwagen sind in der Schweiz Kult. In über 80 Jahren wandelte sich die Adolph Saurer AG von der einfachen Giesserei zum internationalen Unternehmen. Neben den Fahrzeugen ist Saurer für seine Textilmaschinen bekannt. 1982 wurde der Nutzfahrzeugbereich in die NAW überführt, die Textilmaschinenproduktion lief unter dem Namen Saurer weiter. Die letzten Saurer-Lastwagen wurden 1987 ausgeliefert. Die robusten, zuverlässigen Fahrzeuge gerieten nie in Vergessenheit. Dank dem Arboner Saurer-Museum und dem Oldtimer Club Saurer werden einige Modelle noch lange weiterleben.
Saurer-Lastwagen sind in der Schweiz Kult. In über 80 Jahren wandelte sich die Adolph Saurer AG von der einfachen Giesserei zum internationalen Unternehmen. Neben den Fahrzeugen ist Saurer für seine Textilmaschinen bekannt. 1982 wurde der Nutzfahrzeugbereich in die NAW überführt, die Textilmaschinenproduktion lief unter dem Namen Saurer weiter. Die letzten Saurer-Lastwagen wurden 1987 ausgeliefert. Die robusten, zuverlässigen Fahrzeuge gerieten nie in Vergessenheit. Dank dem Arboner Saurer-Museum und dem Oldtimer Club Saurer werden einige Modelle noch lange weiterleben.
Aus Adelbert Süsslis Feder stammt das Rückgrat mancher Saurer-Lastwagen. Während fast 40 Jahren entwarf und zeichnete er Gussteile für das Grundgerüst der weltbekannten Fahrzeuge aus Arbon. Aus seiner Saurer-Karriere hat er heute noch eine Zeichnung – und unzählige Erinnerungen.
Bevor Zeichnungen wie diese in Produktion gingen, wurde ein Prototyp aus Blei gegossen. «Für die serielle Herstellung musste an manchen Stellen mehr Neigung einberechnet werden», sagt Süssli.
Vor Adobe, CAD-Softwares und weiss der IT-Teufel was war Adelbert Süssli. Der bald 84-jährige arbeitete 38 Jahre und nicht 40 – mit den Zahlen nimmt er es genau – als technischer Zeichner für die Adolph Saurer AG. Im Arboner Industrieunternehmen entwarf er Gussteile, aus denen die Chassis für die renommierten Saurer-Fahrzeuge entstanden. Das Chassis ist das Gerüst, welches Motor, Karosserie und Feinmechanik trägt. Süssli brachte mit Tusche, Massstab und Zirkel aufs Pergament, was heute mit Hilfe von Software entsteht. «Das war noch Handwerk, schaut euch die Zeichnung mal an!», sagt Süssli, als wir bei ihm in Arbon zu Besuch sind.
Auf dem Stubentisch hat er seine letzte verbliebene Zeichnung ausgerollt. Sie bildet einen Lenkstocksupport ab, also die Stütze für das fixe Teil zwischen Armaturenbrett und Lenkrad. Süssli blickt auf die Zeichnung und sagt: «Verrückt. Wir machten das mit dem Kopf!» Auch wenn ein Kunde den Tank auf der linken statt auf der rechten Fahrzeugseite wollte. Oder 80 Zentimeter mehr Ladefläche brauchte. Dann musste Zeichner Süssli «umdenken, rechnen, nichts vergessen» und einen neuen Entwurf zeichnen.
Harte Lehre öffnet Tür zur Saurer-Karriere
Als Adelbert Süssli 1964 bei Saurer anheuerte, war das Unternehmen ein Weltkonzern: 4000 Angestellte beschäftigte es damals. Gefragt war Adelbert Süssli besonders wegen einer Fähigkeit: «Gussteile zeichnen war meine Spezialität. Davon hatten andere keine Ahnung», sagt er. Dieses Handwerk erlernte Süssli in der Modellschreiner-Lehre. Trotzdem blickt er mit gemischten Gefühlen auf seine Ausbildung zurück, die er 1953 bei der Firma Stäbler begann: «Der Modellbau stand oft im Hintergrund. Manchmal schickte mich die Frau des Geschäftsführers einkaufen. Im Winter spitzte ich sogar Holzski an.» Die «Work-Life-Balance» war sowieso noch kein Begriff: Der Tag begann um halb sieben und endete um sechs Uhr abends. Oft legte Süssli zwischen sieben und zehn Uhr noch eine Extraschicht ein. «Also eine Katastrophe», fasst er seine Arbeitszeiten zusammen.
Bei Saurer waren die Bedingungen viel besser. Statt am Boden und neben einer lauten Hobelmaschine arbeitete Süssli plötzlich in einem geräumigen, sauberen Büro. «Wir hatten im dritten Stock einen schönen Blick auf den Bodensee. Für die Arbeit standen uns grosse Reissbretter zur Verfügung.» Feierabend war in der Abteilung Konstruktion oft schon um fünf. Später kam mit Einführung der Fünftagewoche ein verlängertes Wochenende. Fürs Mittagessen hätte es die Saurer-Kantine gegeben, doch der Ur-Arboner Süssli war in fünf Velominuten zuhause. Dort verpflegte ihn zuerst seine Ehefrau, später seine zweite Partnerin.
Die Bilanz seiner Zeit bei Saurer fällt für Adelbert Süssli positiv aus: «Ich ging gerne zur Arbeit.»
Die gerettete Zeichnung
Genauso wie die guten Zeiten erlebte Süssli den Niedergang der Saurer-Nutzfahrzeuge. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts sanken die Herstellungskosten in anderen Ländern. Für Saurer wurde es schwieriger, wettbewerbsfähige Fahrzeuge zu produzieren. 1982 übernahm Daimler-Benz den Nutzfahrzeugbereich von Saurer.
Die neue Besitzerfirma schloss diesen mit der ebenfalls aufgekauften Franz Brozincevic & Cie. zur Nutzfahrzeuggesellschaft Arbon und Wetzikon (NAW) zusammen. Süssli weiss noch genau, was danach geschah: «Plötzlich kam in unserer Abteilung der Befehl, sämtliche Zeichnungen zu vernichten. Vielleicht wollte Daimler-Benz verhindern, dass Saurer als Fahrzeughersteller nochmals aufsteht», sagt er. Die Weisung fand nur bedingt Gehör.
Beim ersten Blick auf seine Zeichnung sagt Adelbert Süssli: «Da muss ich gleich selbst wieder überlegen, wie wir das gemacht haben.»
Süsslis letzte Zeichnung ging nicht mehr in Produktion. Heute ist sie aber ein Beweis für sein Können.
Süssli nahm seine letzte Zeichnung als Erinnerung mit. Auch andere Saurer-Angestellte dürften ihre Entwürfe gerettet haben, meint Süssli: «Ich war nicht der Einzige mit einer Beziehung zum Unternehmen.» Tatsächlich besitzt das Saurer-Museum in Arbon weitere Zeichnungen und Fahrzeugpläne. Aktuell sammelt das Museum Mittel, um diese in einem Online-Archiv öffentlich zugänglich zu machen. Vielleicht ist dereinst auch die letzte Zeichnung von Adelbert Süssli dort zu finden. Gefragt, ob er diese ins Museum geben würde, zögert er kurz und sagt: «Ja, nach dem Tod kann ich sie schliesslich nicht mitnehmen.» Er finde es wichtig, dass handwerkliches Wissen erhalten bleibt, denn: «Heute können nämlich alle nur noch den Knopf drücken, dann läuft die Maschine wie von selbst.»
Das Ende einer Ära
In der NAW waren die ehemaligen Saurer-Mitarbeitenden für Sonderanfertigungen zuständig. Eigene Fahrzeuge verkaufte die Firma nicht mehr. «Daimler-Benz wusste, dass dieses Geschäft nicht rentiert. Aber man wollte der ehemaligen Saurer-Kundschaft diesen Dienst anbieten», sagt Süssli. Mit der Zeit kamen kaum mehr Aufträge ins einstige Saurer-Büro, die Arbeit wurde immer weniger. Im Juli 2002 ging Adelbert Süssli in Frühpension. Mit Jahrgang 38 war er der Dienstälteste in der Abteilung Konstruktion. Am Ende blieb eine 40-köpfige Belegschaft übrig. Im Januar 2003 schloss die NAW ihre Tore.
Adelbert Süssli bleibt neben seinen Erinnerungen und der Zeichnung noch der letzte Saurer-Kalender aus dem Jahr 1982. Und der Kontakt zu seinem ehemaligen Chef, den er heute noch ab und an trifft. Viele seiner einstigen Kollegen sind verstorben. Ob Adelbert Süssli stolz ist, bei Saurer gewesen zu sein? Direkt ja sagt er nicht, doch: «Der Saurer, der war damals schon ein Begriff.»
Yann Lengacher, *1997, studiert Journalismus an der ZHAW in Winterthur. Er ist der Enkel von Adelbert Süssli. Über den industriellen Hintergrund seiner Familie wusste Lengacher bis zu dieser Arbeit wenig. Durch die Gespräche mit seinem Grossvater lernte er seine Familiengeschichte aus einem anderen Blickwinkel kennen – und mehr über das Schweizer Industriezeitalter.
Irina Brandenberger, *1996, studiert ebenfalls an der ZHAW in Winterthur, jedoch Organisationskommunikation. Sie wuchs im Zürcher Weinland in einer traditionsbewussten Familie auf. Darum ist es ihr wichtig, Wissen aus vergangenen Zeiten zu bewahren und weiterzugeben. Dies kann sie hie und da bei einem ihrer Lieblingsjobs in die Tat umsetzen: der Moderation.
Das Portrait entstand 2022 im Rahmen einer Kooperation von Industriekultur Spot mit dem IAM, Institut für Angewandte Medienwissenschaft an der ZHAW, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
Bevor Zeichnungen wie diese in Produktion gingen, wurde ein Prototyp aus Blei gegossen. «Für die serielle Herstellung musste an manchen Stellen mehr Neigung einberechnet werden», sagt Süssli.
Vor Adobe, CAD-Softwares und weiss der IT-Teufel was war Adelbert Süssli. Der bald 84-jährige arbeitete 38 Jahre und nicht 40 – mit den Zahlen nimmt er es genau – als technischer Zeichner für die Adolph Saurer AG. Im Arboner Industrieunternehmen entwarf er Gussteile, aus denen die Chassis für die renommierten Saurer-Fahrzeuge entstanden. Das Chassis ist das Gerüst, welches Motor, Karosserie und Feinmechanik trägt. Süssli brachte mit Tusche, Massstab und Zirkel aufs Pergament, was heute mit Hilfe von Software entsteht. «Das war noch Handwerk, schaut euch die Zeichnung mal an!», sagt Süssli, als wir bei ihm in Arbon zu Besuch sind.
Auf dem Stubentisch hat er seine letzte verbliebene Zeichnung ausgerollt. Sie bildet einen Lenkstocksupport ab, also die Stütze für das fixe Teil zwischen Armaturenbrett und Lenkrad. Süssli blickt auf die Zeichnung und sagt: «Verrückt. Wir machten das mit dem Kopf!» Auch wenn ein Kunde den Tank auf der linken statt auf der rechten Fahrzeugseite wollte. Oder 80 Zentimeter mehr Ladefläche brauchte. Dann musste Zeichner Süssli «umdenken, rechnen, nichts vergessen» und einen neuen Entwurf zeichnen.
Harte Lehre öffnet Tür zur Saurer-Karriere
Als Adelbert Süssli 1964 bei Saurer anheuerte, war das Unternehmen ein Weltkonzern: 4000 Angestellte beschäftigte es damals. Gefragt war Adelbert Süssli besonders wegen einer Fähigkeit: «Gussteile zeichnen war meine Spezialität. Davon hatten andere keine Ahnung», sagt er. Dieses Handwerk erlernte Süssli in der Modellschreiner-Lehre. Trotzdem blickt er mit gemischten Gefühlen auf seine Ausbildung zurück, die er 1953 bei der Firma Stäbler begann: «Der Modellbau stand oft im Hintergrund. Manchmal schickte mich die Frau des Geschäftsführers einkaufen. Im Winter spitzte ich sogar Holzski an.» Die «Work-Life-Balance» war sowieso noch kein Begriff: Der Tag begann um halb sieben und endete um sechs Uhr abends. Oft legte Süssli zwischen sieben und zehn Uhr noch eine Extraschicht ein. «Also eine Katastrophe», fasst er seine Arbeitszeiten zusammen.
Bei Saurer waren die Bedingungen viel besser. Statt am Boden und neben einer lauten Hobelmaschine arbeitete Süssli plötzlich in einem geräumigen, sauberen Büro. «Wir hatten im dritten Stock einen schönen Blick auf den Bodensee. Für die Arbeit standen uns grosse Reissbretter zur Verfügung.» Feierabend war in der Abteilung Konstruktion oft schon um fünf. Später kam mit Einführung der Fünftagewoche ein verlängertes Wochenende. Fürs Mittagessen hätte es die Saurer-Kantine gegeben, doch der Ur-Arboner Süssli war in fünf Velominuten zuhause. Dort verpflegte ihn zuerst seine Ehefrau, später seine zweite Partnerin.
Die Bilanz seiner Zeit bei Saurer fällt für Adelbert Süssli positiv aus: «Ich ging gerne zur Arbeit.»
Die gerettete Zeichnung
Genauso wie die guten Zeiten erlebte Süssli den Niedergang der Saurer-Nutzfahrzeuge. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts sanken die Herstellungskosten in anderen Ländern. Für Saurer wurde es schwieriger, wettbewerbsfähige Fahrzeuge zu produzieren. 1982 übernahm Daimler-Benz den Nutzfahrzeugbereich von Saurer.
«Plötzlich kam in unserer Abteilung der Befehl, sämtliche Zeichnungen zu vernichten.»
Die neue Besitzerfirma schloss diesen mit der ebenfalls aufgekauften Franz Brozincevic & Cie. zur Nutzfahrzeuggesellschaft Arbon und Wetzikon (NAW) zusammen. Süssli weiss noch genau, was danach geschah: «Plötzlich kam in unserer Abteilung der Befehl, sämtliche Zeichnungen zu vernichten. Vielleicht wollte Daimler-Benz verhindern, dass Saurer als Fahrzeughersteller nochmals aufsteht», sagt er. Die Weisung fand nur bedingt Gehör.
Beim ersten Blick auf seine Zeichnung sagt Adelbert Süssli: «Da muss ich gleich selbst wieder überlegen, wie wir das gemacht haben.»
Süsslis letzte Zeichnung ging nicht mehr in Produktion. Heute ist sie aber ein Beweis für sein Können.
Süssli nahm seine letzte Zeichnung als Erinnerung mit. Auch andere Saurer-Angestellte dürften ihre Entwürfe gerettet haben, meint Süssli: «Ich war nicht der Einzige mit einer Beziehung zum Unternehmen.» Tatsächlich besitzt das Saurer-Museum in Arbon weitere Zeichnungen und Fahrzeugpläne. Aktuell sammelt das Museum Mittel, um diese in einem Online-Archiv öffentlich zugänglich zu machen. Vielleicht ist dereinst auch die letzte Zeichnung von Adelbert Süssli dort zu finden. Gefragt, ob er diese ins Museum geben würde, zögert er kurz und sagt: «Ja, nach dem Tod kann ich sie schliesslich nicht mitnehmen.» Er finde es wichtig, dass handwerkliches Wissen erhalten bleibt, denn: «Heute können nämlich alle nur noch den Knopf drücken, dann läuft die Maschine wie von selbst.»
Das Ende einer Ära
In der NAW waren die ehemaligen Saurer-Mitarbeitenden für Sonderanfertigungen zuständig. Eigene Fahrzeuge verkaufte die Firma nicht mehr. «Daimler-Benz wusste, dass dieses Geschäft nicht rentiert. Aber man wollte der ehemaligen Saurer-Kundschaft diesen Dienst anbieten», sagt Süssli. Mit der Zeit kamen kaum mehr Aufträge ins einstige Saurer-Büro, die Arbeit wurde immer weniger. Im Juli 2002 ging Adelbert Süssli in Frühpension. Mit Jahrgang 38 war er der Dienstälteste in der Abteilung Konstruktion. Am Ende blieb eine 40-köpfige Belegschaft übrig. Im Januar 2003 schloss die NAW ihre Tore.
Adelbert Süssli bleibt neben seinen Erinnerungen und der Zeichnung noch der letzte Saurer-Kalender aus dem Jahr 1982. Und der Kontakt zu seinem ehemaligen Chef, den er heute noch ab und an trifft. Viele seiner einstigen Kollegen sind verstorben. Ob Adelbert Süssli stolz ist, bei Saurer gewesen zu sein? Direkt ja sagt er nicht, doch: «Der Saurer, der war damals schon ein Begriff.»
Yann Lengacher, *1997, studiert Journalismus an der ZHAW in Winterthur. Er ist der Enkel von Adelbert Süssli. Über den industriellen Hintergrund seiner Familie wusste Lengacher bis zu dieser Arbeit wenig. Durch die Gespräche mit seinem Grossvater lernte er seine Familiengeschichte aus einem anderen Blickwinkel kennen – und mehr über das Schweizer Industriezeitalter.
Irina Brandenberger, *1996, studiert ebenfalls an der ZHAW in Winterthur, jedoch Organisationskommunikation. Sie wuchs im Zürcher Weinland in einer traditionsbewussten Familie auf. Darum ist es ihr wichtig, Wissen aus vergangenen Zeiten zu bewahren und weiterzugeben. Dies kann sie hie und da bei einem ihrer Lieblingsjobs in die Tat umsetzen: der Moderation.
Das Portrait entstand 2022 im Rahmen einer Kooperation von Industriekultur Spot mit dem IAM, Institut für Angewandte Medienwissenschaft an der ZHAW, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.