Albert Rüegg – «Es ist schön, noch zu etwas befähigt zu sein»
Text & Bilder: Mike Beutler und Léonie Eggli
Das Museum Neuthal ist in vier Bereiche unterteilt: Wasserkraft & Arbeit, Spinnen, Weben und Sticken. Seit 2018 sind sie im Verein NIK – Neuthal Textil- und Industriekultur organisiert. Im Verein sind viele freiwillige Spezialisten aus dem Bereich der Textilindustrie tätig, jedoch sind auch Personen mit ausgeprägtem geschichtlichem Fachwissen oder grosser Begeisterung für die Pflege des Kulturgutes und die Vermittlung spannender Informationen engagiert. Der Verein NIK ist Mitglied des Vereines zur Erhaltung alter Handwerks- und Industrieanlagen im Zürcher Oberland (VEHI).
Das Museum Neuthal ist in vier Bereiche unterteilt: Wasserkraft & Arbeit, Spinnen, Weben und Sticken. Seit 2018 sind sie im Verein NIK – Neuthal Textil- und Industriekultur organisiert. Im Verein sind viele freiwillige Spezialisten aus dem Bereich der Textilindustrie tätig, jedoch sind auch Personen mit ausgeprägtem geschichtlichem Fachwissen oder grosser Begeisterung für die Pflege des Kulturgutes und die Vermittlung spannender Informationen engagiert. Der Verein NIK ist Mitglied des Vereines zur Erhaltung alter Handwerks- und Industrieanlagen im Zürcher Oberland (VEHI).
Albert Rüegg ist kein Mann der grossen Worte, lieber lässt er Taten sprechen – oder erweckt die alten Spinnmaschinen im Museum Neuthal zu neuem Leben. Ein Porträt eines Mannes, der sich seit über 60 Jahren der Textilindustrie verschrieben hat.
Stolz zeigt Albert Rüegg eine Maschine seines ehemaligen Arbeitgebers Rieter.
Als wolle er dem bewölkten Himmel etwas entgegensetzen, schreitet Albert Rüegg an diesem Montagnachmittag in leuchtend gelbem Hemd zum Eingang des Museums Neuthal. «Spinnen» steht in brauner Schrift auf dem akkurat geglätteten Kragen, als dürfe nicht in Vergessenheit geraten, welch industriekulturelles Erbe hier in der Zürcher Oberländer Idylle, umringt von dunklem Tannenwald und stillen Gewässern, vor sich hinschlummert.
Rüegg hätte nach seiner Pensionierung im Jahre 2005 den wohlverdienten Ruhestand geniessen können. Sich ausschliesslich der Familie, dem Garten seines Hauses oder dem Singen im Chor widmen können, dem er einst während seiner Schulzeit ziemlich unverhofft beigetreten war. Was ihn davon abhielt, war seine ungebrochene Leidenschaft für die Textilindustrie.
Von der Baumwolle zum Garn
Diese begleitet Rüegg schon fast sein Leben lang. 1940 in Pfäffikon ZH geboren, absolvierte er erst eine Maschinenzeichnerlehre, bevor er sich zwischen 1963 und 1966 am Technikum in Winterthur weiterbildete. Kurz darauf trat Rüegg eine Stelle in der international tätigen Maschinenfabrik Rieter an, wo er anfangs im Forschungs- und Entwicklungsbereich und später im Qualitätsmanagement arbeitete. Der Einstieg ins Unternehmen verlief alles andere als optimal, zogen doch mehrere Kunden überraschend Aufträge zurück, die Rüegg verantwortete. «Die ersten Projekte waren wirklich alle ‹für d Füchs›», sagt der 82-Jährige und lacht herzhaft. Von da an sollte es aufwärtsgehen. Der Firma blieb er bis zum Ende seiner beruflichen Laufbahn treu.
Seither geht Rüegg als einer von 20 Spezialisten im Museum ein und aus, zeigt im Rahmen von Führungen die historischen Spinnmaschinen, von denen die meisten von seinem einstigen Arbeitgeber Rieter stammen, und erklärt, wie aus Baumwolle Garn entsteht. Keine Führung sei wie die andere, sagt Rüegg, er passe die Sprache und den Inhalt jeweils der Zielgruppe an. Diese reiche von ETH-Studierenden bis hin zu Primarschüler:innen. Ein Lächeln macht sich in seinem Gesicht breit, als er erzählt, wie eine Schulklasse einst entgegen den Erwartungen der Lehrerin völlig gebannt seinen Ausführungen lauschte, ohne eine Pause einlegen zu wollen.
Der Pfäffiker trainiert regelmässig wichtige Handgriffe, um die Reparaturen an den Maschinen selbst durchführen zu können.
Geschickt erzeugt Rüegg einen Faden in der historischen indischen «Ghandi-Spindel».
Ein früherer Arbeitskollege habe ihn damals auf das Amt im Museum aufmerksam gemacht. «Anfangs war geplant, dass ich vielleicht zwei Führungen im Jahr mache. Nun bin ich fast jede Woche hier», so Rüegg, während er schnellen Schrittes die Treppe in der ehemaligen Textilfabrik emporsteigt. «Man wird oft in etwas reingeworfen, ohne das Ziel zu sehen. Man arbeitet einfach, geht immer weiter und es wird immer grösser.»
Schweres Erbe
Die Ursprünge der Neuthaler Baumwollspinnerei liegen fast zwei Jahrhunderte zurück: 1827 wurde unter der Leitung von Johann Rudolf Guyer die Fabrik aufgebaut, ehe ab 1874 dessen Sohn Adolf Guyer-Zeller die Geschicke der Firma leitete. Dieser kehrte damals von seinen Weiterbildungsreisen aus den führenden Industrienationen England und USA zurück. «Unter ihm erlebte die Spinnerei ihre Hochblüte», erzählt Rüegg, vor sich einen Ordner mit Dokumenten. «Guyer-Zeller hatte sich zu dieser Zeit allerdings auch schon stark mit dem Eisenbahnwesen beschäftigt. Bekannt wurde er in der breiten Bevölkerung ja dann vor allem wegen des Baus der Jungfraubahn.» Rüegg blättert sorgfältig in den Dokumenten. Liest. Schweigt. «Irgendwann ging es bachab mit der Spinnerei, bis sie 1946/47 schliesslich liquidiert werden musste.» Zahlreiche Menschen aus dem Einzugsgebiet verloren ihre Arbeit und das Zürcher Oberland den Glanz vergangener Tage als Textilindustriehochburg. «Dann war hier hinten vorerst tote Hose.»
Seit etwa 40 Jahren rede man wieder von dieser Spinnerei, vorher sei hier alles brachgelegen, so der Pfäffiker. «Die kantonale Denkmalpflege meinte damals, dass es schade wäre, wenn man dieses Gebäude verlottern lassen würde, dass man etwas daraus machen müsse.» So habe man angefangen, alte Spinnmaschinen zu akquirieren, um möglichst originalgetreu die Spinnprozesse der damaligen Zeit aufzuzeigen. Später wurde die Sammlung mit Web- und Handstickmaschinen ergänzt (siehe Box).
Mit Demut der «Sintflut» trotzen
Während Rüegg durch die Ausstellung führt, fällt auf, wie er die Maschinen stets mit Sorgfalt überprüft, bevor er sie in Betrieb nimmt. Es sei wichtig, die Geräte so zu hinterlassen, wie man sie vorgefunden habe, sagt er. Dass man beispielsweise die filigranen Faserverknotungen wieder korrekt aufziehe, wenn plötzlich ein Kardenband reisse. «Ich kann dann nicht einfach sagen: ‹Nach mir die Sintflut, soll sich halt der Nächste drum kümmern›.»
Die Aussage steht exemplarisch für das Wesen Rüeggs: Er überlässt nichts dem Zufall. Wählt seine Worte mit Bedacht. Handelt umsichtig. Mit einem Anflug von Demut sagt er: «Für mich ist es mit 82 Jahren immer noch eine positive Herausforderung, diese Führungen zu machen. Es ist schön, noch zu etwas befähigt zu sein.»
Die Wände des Museums sind geprägt von Fotografien aus der Blütezeit der Spinnerei.
Vereinzelte Sonnenstrahlen finden inzwischen den Weg durch die dichte Wolkendecke und die Fenster der ehemaligen Guyer-Fabrik. Rüegg setzt behutsam die vollautomatisierte Ringspinnmaschine in Gang. Ein Rattern erfüllt den Raum, als wäre ein schlummernder Riese aus seinem Dornröschenschlaf erwacht.
Mike Beutler, *1992, absolvierte ursprünglich eine Lehre als Koch und studiert momentan Kommunikation an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Er wohnt in Rüti und seine Mutter ist in Bäretswil neben dem Neuthal aufgewachsen, weshalb ihm die historischen Gebäude und die Geschichte der Textilindustrie im Zürcher Oberland bestens bekannt sind.
Léonie Eggli, *1998, studiert Kommunikation an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), arbeitete eine Zeit lang als Journalistin beim Zürcher Oberländer und aktuell als Kommunikationsmitarbeiterin im Kunst Museum Winterthur. In ihrer Freizeit beschäftigt sie sich gerne mit kulturgeschichtlichen Hintergründen und deren Darstellung in Schrift und Bild.
Das Portrait entstand 2022 im Rahmen einer Kooperation von Industriekultur Spot mit dem IAM, Institut für Angewandte Medienwissenschaft an der ZHAW, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
Stolz zeigt Albert Rüegg eine Maschine seines ehemaligen Arbeitgebers Rieter.
Als wolle er dem bewölkten Himmel etwas entgegensetzen, schreitet Albert Rüegg an diesem Montagnachmittag in leuchtend gelbem Hemd zum Eingang des Museums Neuthal. «Spinnen» steht in brauner Schrift auf dem akkurat geglätteten Kragen, als dürfe nicht in Vergessenheit geraten, welch industriekulturelles Erbe hier in der Zürcher Oberländer Idylle, umringt von dunklem Tannenwald und stillen Gewässern, vor sich hinschlummert.
Rüegg hätte nach seiner Pensionierung im Jahre 2005 den wohlverdienten Ruhestand geniessen können. Sich ausschliesslich der Familie, dem Garten seines Hauses oder dem Singen im Chor widmen können, dem er einst während seiner Schulzeit ziemlich unverhofft beigetreten war. Was ihn davon abhielt, war seine ungebrochene Leidenschaft für die Textilindustrie.
Von der Baumwolle zum Garn
Diese begleitet Rüegg schon fast sein Leben lang. 1940 in Pfäffikon ZH geboren, absolvierte er erst eine Maschinenzeichnerlehre, bevor er sich zwischen 1963 und 1966 am Technikum in Winterthur weiterbildete. Kurz darauf trat Rüegg eine Stelle in der international tätigen Maschinenfabrik Rieter an, wo er anfangs im Forschungs- und Entwicklungsbereich und später im Qualitätsmanagement arbeitete. Der Einstieg ins Unternehmen verlief alles andere als optimal, zogen doch mehrere Kunden überraschend Aufträge zurück, die Rüegg verantwortete. «Die ersten Projekte waren wirklich alle ‹für d Füchs›», sagt der 82-Jährige und lacht herzhaft. Von da an sollte es aufwärtsgehen. Der Firma blieb er bis zum Ende seiner beruflichen Laufbahn treu.
Seither geht Rüegg als einer von 20 Spezialisten im Museum ein und aus, zeigt im Rahmen von Führungen die historischen Spinnmaschinen, von denen die meisten von seinem einstigen Arbeitgeber Rieter stammen, und erklärt, wie aus Baumwolle Garn entsteht. Keine Führung sei wie die andere, sagt Rüegg, er passe die Sprache und den Inhalt jeweils der Zielgruppe an. Diese reiche von ETH-Studierenden bis hin zu Primarschüler:innen. Ein Lächeln macht sich in seinem Gesicht breit, als er erzählt, wie eine Schulklasse einst entgegen den Erwartungen der Lehrerin völlig gebannt seinen Ausführungen lauschte, ohne eine Pause einlegen zu wollen.
Der Pfäffiker trainiert regelmässig wichtige Handgriffe, um die Reparaturen an den Maschinen selbst durchführen zu können.
Geschickt erzeugt Rüegg einen Faden in der historischen indischen «Ghandi-Spindel».
Ein früherer Arbeitskollege habe ihn damals auf das Amt im Museum aufmerksam gemacht. «Anfangs war geplant, dass ich vielleicht zwei Führungen im Jahr mache. Nun bin ich fast jede Woche hier», so Rüegg, während er schnellen Schrittes die Treppe in der ehemaligen Textilfabrik emporsteigt. «Man wird oft in etwas reingeworfen, ohne das Ziel zu sehen. Man arbeitet einfach, geht immer weiter und es wird immer grösser.»
Schweres Erbe
Die Ursprünge der Neuthaler Baumwollspinnerei liegen fast zwei Jahrhunderte zurück: 1827 wurde unter der Leitung von Johann Rudolf Guyer die Fabrik aufgebaut, ehe ab 1874 dessen Sohn Adolf Guyer-Zeller die Geschicke der Firma leitete. Dieser kehrte damals von seinen Weiterbildungsreisen aus den führenden Industrienationen England und USA zurück. «Unter ihm erlebte die Spinnerei ihre Hochblüte», erzählt Rüegg, vor sich einen Ordner mit Dokumenten. «Guyer-Zeller hatte sich zu dieser Zeit allerdings auch schon stark mit dem Eisenbahnwesen beschäftigt. Bekannt wurde er in der breiten Bevölkerung ja dann vor allem wegen des Baus der Jungfraubahn.» Rüegg blättert sorgfältig in den Dokumenten. Liest. Schweigt. «Irgendwann ging es bachab mit der Spinnerei, bis sie 1946/47 schliesslich liquidiert werden musste.» Zahlreiche Menschen aus dem Einzugsgebiet verloren ihre Arbeit und das Zürcher Oberland den Glanz vergangener Tage als Textilindustriehochburg. «Dann war hier hinten vorerst tote Hose.»
Seit etwa 40 Jahren rede man wieder von dieser Spinnerei, vorher sei hier alles brachgelegen, so der Pfäffiker. «Die kantonale Denkmalpflege meinte damals, dass es schade wäre, wenn man dieses Gebäude verlottern lassen würde, dass man etwas daraus machen müsse.» So habe man angefangen, alte Spinnmaschinen zu akquirieren, um möglichst originalgetreu die Spinnprozesse der damaligen Zeit aufzuzeigen. Später wurde die Sammlung mit Web- und Handstickmaschinen ergänzt (siehe Box).
Mit Demut der «Sintflut» trotzen
Während Rüegg durch die Ausstellung führt, fällt auf, wie er die Maschinen stets mit Sorgfalt überprüft, bevor er sie in Betrieb nimmt. Es sei wichtig, die Geräte so zu hinterlassen, wie man sie vorgefunden habe, sagt er. Dass man beispielsweise die filigranen Faserverknotungen wieder korrekt aufziehe, wenn plötzlich ein Kardenband reisse. «Ich kann dann nicht einfach sagen: ‹Nach mir die Sintflut, soll sich halt der Nächste drum kümmern›.»
Die Aussage steht exemplarisch für das Wesen Rüeggs: Er überlässt nichts dem Zufall. Wählt seine Worte mit Bedacht. Handelt umsichtig. Mit einem Anflug von Demut sagt er: «Für mich ist es mit 82 Jahren immer noch eine positive Herausforderung, diese Führungen zu machen. Es ist schön, noch zu etwas befähigt zu sein.»
«Wenn wir Leute gewinnen können, die Freude an den Maschinen und dem Vermitteln von Wissen haben, können wir dieses kulturelle Erbe aufrechterhalten.»
Die Wände des Museums sind geprägt von Fotografien aus der Blütezeit der Spinnerei.
Vereinzelte Sonnenstrahlen finden inzwischen den Weg durch die dichte Wolkendecke und die Fenster der ehemaligen Guyer-Fabrik. Rüegg setzt behutsam die vollautomatisierte Ringspinnmaschine in Gang. Ein Rattern erfüllt den Raum, als wäre ein schlummernder Riese aus seinem Dornröschenschlaf erwacht.
Mike Beutler, *1992, absolvierte ursprünglich eine Lehre als Koch und studiert momentan Kommunikation an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Er wohnt in Rüti und seine Mutter ist in Bäretswil neben dem Neuthal aufgewachsen, weshalb ihm die historischen Gebäude und die Geschichte der Textilindustrie im Zürcher Oberland bestens bekannt sind.
Léonie Eggli, *1998, studiert Kommunikation an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), arbeitete eine Zeit lang als Journalistin beim Zürcher Oberländer und aktuell als Kommunikationsmitarbeiterin im Kunst Museum Winterthur. In ihrer Freizeit beschäftigt sie sich gerne mit kulturgeschichtlichen Hintergründen und deren Darstellung in Schrift und Bild.
Das Portrait entstand 2022 im Rahmen einer Kooperation von Industriekultur Spot mit dem IAM, Institut für Angewandte Medienwissenschaft an der ZHAW, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.