Armon Defilla  – «Als Uhrmacher sieht man jeden Tag Neues» 




Text & Bilder: Nadja Baumgartner und Irina Eftimie

Jährlich werden in der Schweiz rund 20 Millionen Uhren produziert, was mehr als zwei Prozent der weltweiten Produktion entspricht. Als in den 1970er-Jahren die asiatischen Quarzuhren aufkamen, erlebte die Schweizer Uhrenproduktion einen starken Rückgang. Die Angestelltenzahl fiel von 90'000 in den 60er-Jahren auf 30'000 in den 80er-Jahren. Erst mit der Massenproduktion der Swatch-Uhren fand die Schweizer Uhrenindustrie ihren Weg zurück an die Spitze. Gemäss Arbeitgeberverband der Schweizer Uhrenindustrie gibt es heute 57'550 Beschäftigte in der Uhrenbranche.

Die Uhr hat in der Schweiz einen besonderen Stellenwert. Doch wie hat sich das Handwerk im Laufe der Zeit verändert? Der Uhrmacher Armon Defilla über den Wandel der Uhrenindustrie, die Geschichte des Uhrenmuseums zum Rösli und seine Faszination für das Handwerk.



Seine Faszination für Uhren hat Armon Defilla von seinem Vater geerbt.

Das im Jahre 1803 gebaute zweistöckige Haus wirkt inmitten der Stadt Zürich, als wäre es aus der Zeit gefallen. Die gelb bemalte Fassade des Uhrenmuseums zum Rösli ziert eine grosse Uhr mit römischen Zahlen. Die stillstehenden, goldenen Stunden- und Minutenzeiger sind auf zehn Minuten nach zehn Uhr eingestellt. Es scheint beinahe, als imitierten sie ein Lächeln.

Armon Defilla öffnet die Tür. Sein blau kariertes Hemd ist an den Handgelenken makellos nach oben gekrempelt, perfekt gebügelt, ohne störende Falten. Um seinen Kopf trägt er eine kleine Lupe: Armon Defilla ist Uhrmacher. Vor vier Jahren begann er hier seine Arbeit als Uhrenfachmann und Museumsleiter, eine Stelle, die seine Leidenschaft für das Handwerk mit seiner Faszination für die Uhrengeschichte verbindet. Im Hintergrund ist bereits das Klackern, Klicken und Klingeln der rund 500 gesammelten Tisch-, Wand- und Standuhren zu hören. Diese Sammlung wurde von Marta Gisler und Hans Neufeld im Rahmen einer Stiftung zusammengetragen. Die Leben der beiden waren geprägt von ihrer Passion für Uhren und deren Geschichte.



Seine Leidenschaft für Uhren lebt er im Uhrenmuseum zum Rösli aus.




Die Louis-XVI-Pendules waren im 18. Jahrhundert die «Uhren der Könige».


Eine vererbte Begeisterung

«Der geschichtliche Hintergrund ist spannend, wie vor mehr als fünfhundert Jahren aus Schmieden und Schlossern plötzlich Uhrmacher wurden», sagt Armon Defilla. Damals wurden zwei der wichtigsten technischen Erfindungen der Geschichte gemacht: einerseits die sogenannte Waag, eine Art Balken, der an einer Spindel befestigt war und Schwingungen ausführte. Andererseits die Schlossscheibe, die zusammen mit einem Zahnrad auf die Reihenfolge der Stundenschläge programmiert ist. «Eigentlich die erste Software der Menschheit», erklärt er, während er über knarzende Treppenstufen durchs Haus führt. Die Lupe hat er mittlerweile abgenommen. «Diese zwei Erfindungen hatten etwa dreihundert Jahre Bestand, was unglaublich beeindruckend ist. Gibt es heute noch Dinge, die dreihundert Jahre überleben werden?» Für einen Moment herrscht Schweigen, zu hören sind nur die unendlich weitertickenden Uhren.

Vor allem die Einzigartigkeit der einzelnen Uhren fasziniert Defilla. «Als Uhrmacher hat man jeden Tag die Chance, etwas zu sehen, was man noch nicht gekannt hat», sagt er. «Jede Uhr hat ihren eigenen Charakter; das beeindruckt mich sehr.»

Defilla absolvierte von 1979 bis 1983 seine Lehre als diplomierter Uhrmacher. Seinen Werdegang prägte vor allem sein Vater, der ebenfalls eine besondere Verbindung zu Uhren hatte. Im Oberengadin besass er ein Uhrengeschäft und verkaufte dort die unterschiedlichsten Zeitmesser. Eigentlich hätte Defilla dieses Geschäft übernehmen sollen, doch ihm war schon früh klar, dass er das nicht möchte. «Ich war nie ein Geschäftsmann oder ein Verkäufer. Das liegt mir einfach nicht. Ich wäre im Verkauf nie glücklich geworden.»


Uhrmacherei im Herzen der Stadt Zürich

Seit 1887 befindet sich das Haus an der Röslistrasse im Besitz der Familie Gisler. Marta Gisler benutzte es als Wohnhaus, bis ihr guter Freund Hans Neufeld es anschliessend renovierte. Gemeinsam wollten sie darin ihre Uhrensammlungen zeigen und der Öffentlichkeit zugänglich machen. Auf beiden Stockwerken sind zahlreiche Uhren ausgestellt, die aus der Zeit zwischen 1450 und 1950 stammen. Armon Defilla hat zu jeder einzelnen etwas zu erzählen: «Jede Uhr ist ein Unikat. Jede Hebelung, jedes Zahnrad im Inneren ist eine Einzelanfertigung.» Das gebe es heute fast nicht mehr. «Bis zur Französischen Revolution wurde wirklich jede einzelne Uhr auf Bestellung hergestellt. Danach entwickelte sich langsam eine Industrie rund um das Handwerk.»


«Heute kann ich als Uhrmacher für gewisse Markenuhren gerade mal die Batterie wechseln, alles andere erledigt der Roboter, die Maschine.»





Als Uhrmacher restauriert und repariert Armon Defilla auch Uhren für Kunden.

Die industrielle Produktion um die Jahrhundertwende 1999/2000 habe schliesslich alles standardisiert. «Heute kann ich als Uhrmacher für gewisse Markenuhren gerade mal die Batterie wechseln, alles andere erledigt ein Roboter.» Dadurch seien viele Facetten des Handwerks und der Uhrmacherkunst verloren gegangen. Firmen würden die Uhren einfach in ihre eigene Werkstatt schicken; damit hätte es sich dann getan. «Ich kann leider nicht einschätzen, ob das Handwerk jemals wieder einen Aufschwung erleben wird», erklärt der Uhrmacher, während er nun wieder die knarzenden Stufen hinuntersteigt. Die Enttäuschung ist ihm anzusehen, auch wenn er es nicht ausdrücklich sagt. «Aber in den letzten Jahren hat sich die Produktion einiger Einzelteile wieder zurück in die Schweiz verlagert, nicht alles wird einfach nur in China produziert.» Ein Lichtblick.

Seine Lupe hat er mittlerweile wieder aufgesetzt; ein Zeichen, dass er nun mit seinen Uhren allein sein will. Auf seiner Arbeitsfläche wartet bereits das nächste Exemplar, das restauriert werden will. Es wird Zeit, sein Handwerk fortzusetzen.


Nadja Baumgartner, *2001, schreibt leidenschaftlich gerne und möchte sich im Journalismus etablieren. Sie liebt es, Geschichten zu Papier zu bringen und so auch auf Themen aufmerksam machen, die sonst wenig Beachtung finden. Ihren Bezug zur (Industrie-)Kultur findet sie bei regelmässigen Museumsbesuchen.

Irina Eftimie, *1992, ist seit 2011 journalistisch tätig und schreibt über verschiedenste Themen aus den Bereichen Politik, Kultur, Lifestyle und Beauty. Ihr Bezug zu Industrie und Industriekultur stammt aus ihrer Kindheit: In Konolfingen aufgewachsen, ist sie mit dem von der Nestlé-Fabrik am Bahnhof stammenden Duft von Vanillecrème in der Luft gross geworden.


Das Portrait entstand 2022 im Rahmen einer Kooperation von Industriekultur Spot mit dem IAM, Institut für Angewandte Medienwissenschaft an der ZHAW, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.