Heinrich Villiger  – «Wir rauchen unser ganzes Leben und leben immer noch» 




Text & Bilder: Tizian Fürer und Pascal Kuba

Der von den Medien oft als «Stumpenbaron» betitelte Heinrich Villiger fand nie Gefallen an seinem Beinamen. Der Begriff Stumpen sei negativ konnotiert, meint er. Gleichzeitig dürfe man Stumpen nicht mit Zigarren verwechseln: Während Stumpen früher in langen Wickeln gedreht und voneinander geschnitten wurden, wird jede Zigarre einzeln von Hand gerollt. An diesem Vorgang werde sich auch nichts ändern, sagt Villiger und unterstreicht das mit dem amerikanischen Sprichwort: «Grossmutters Kirschkuchen ist immer besser als ein gekaufter aus dem Laden.»

In einer sich stetig wandelnden Branche ist Heinrich Villiger einer der Letzten seiner Art. Der älteste aktive Zigarrenproduzent der Welt führt selbst mit 91 Jahren das Unternehmen in die Zukunft und plauderte auch schon mit einem Staatsoberhaupt.
 

Heinrich Villiger gibt eine private Führung durch den Fabrikationsraum. 



Auch mit 91 Jahren kontrolliert der Chef die Zigarren persönlich.

Sowohl die Wickel- als auch die Cellophan-Packmaschine heben den Lärmpegel im Fabrikationsraum gewaltig. Leicht gebeugt betrachtet Heinrich Villiger die gewickelten Zigarren, nimmt eine in die Hand, dreht sie behutsam und sucht gewissenhaft nach Mängeln. Nachdem die Zigarre die Qualitätskontrolle bestanden hat, wird sie in der Brusttasche des Hemdes verstaut. Mit einem Lächeln und einer Geste bittet er in einen Nebenraum. Hier nehmen wir Platz. Dieses Zimmer durchzieht im Gegensatz zum Fabrikraum kein Maschinengeruch, dafür füllt es sich nach kurzer Zeit mit einem würzigen Geruch nach Tabak «mit einer tropischen Note», wie Villiger ihn selbst charakterisiert. Denn er selbst hat mit einem Streichholz eine braune, lange Zigarre entzündet, eben jene, die er kurz zuvor noch kontrolliert hatte. Das Produkt, wofür sein Familienname bis weit über die Grenzen Europas hinaus erkannt und geachtet wird.

Seine Augen leuchten. Die Anekdoten und Geschichten, die der 91-Jährige erzählt, übertreffen sich laufend. So erzählt Villiger auch von Gesprächen mit Altbundeskanzler Gerhard Schröder, bei welchen sich beide über Warnaufdrücke auf Tabakprodukten beklagten. Damals schenkte ihm Villiger eine Kiste Havannas und fügte hinzu: «Herr Bundeskanzler, damit verunstalten wir die schönen Kisten. Wir rauchen doch unser ganzes Leben lang und leben immer noch.»


Von der Textilbranche zur Tabakindustrie

Villiger arbeitet seit 70 Jahren bei «Villiger & Söhne», seit 56 Jahren leitet er die Firma. Aufgewachsen ist er im aargauischen «Stumpenland». Die Region erstreckt sich vom Seetal bis ins obere Wynental. Hier standen zu Gründungszeiten der Firma 30 bis 40 Zigarren- und Zigarillofabriken. Davon sind heute noch zwei übrig. Geprägt hat das Stumpenland nicht nur die Schweiz. Bereits während des Sezessionskriegs von 1861 bis 1865 hätten Schweizer Tabakproduzenten Zigarren in die USA exportiert, bevor dort ein riesiger Markt entstanden sei, sagt Villiger stolz. Für den Erfolg des Stumpenlands sei vor allem das Ende der Textilbranche verantwortlich gewesen. «Viele, die in der Textilbranche ihr Geld verdient hatten, wechselten in die Tabakindustrie.»

Gegründet wurde der Familienbetrieb von Villigers Grossvater Jean. Dieser begann in der Tabakbranche als Buchhalter. 1888 machte sich Villiger selbständig und gründete «Villiger» in Pfeffikon, nur einen Steinwurf von Heinrich Villigers späterem Geburtsort Menziken entfernt. Von seinem ehemaligen Arbeitgeber erhielt er gar ein Startkapital. Nach dem frühen Tod Jean Villigers übernahm seine Frau Louise die Geschicke. Und sie hatte Erfolg: 1907 brachte sie die erste Zigarre mit Gänsekiel auf den Markt – damals eine Sensation. Zudem gelang es ihr drei Jahre später, das Unternehmen nach Waldshut-Tiengen in Deutschland zu verlegen. «Zu dieser Zeit führten die Deutschen gerade Zölle ein. Sie musste über den Rhein, um den viel grösseren deutschen Markt nicht zu verlieren», sagt Heinrich Villiger. Damals sei die Ware aufgrund fehlender Brücken noch mit Schiffen über den Rhein gebracht worden, plaudert er weiter. Ob die Expansion nicht der berühmten «Swissness» geschadet habe? Villiger schmunzelt. «So sind die Deutschen! Die pochen selbst auch auf Produkte, die in der Heimat hergestellt wurden.» Mit den Jahren verschob sich der Firmensitz immer mehr nach Deutschland. Heute arbeiten von insgesamt 1700 Mitarbeitenden gerade mal etwas mehr als 100 im aargauischen Menziken. Dort drehen sie unter anderem die weltbekannten «Krummen».


Reisen statt Studieren

Als älterem von zwei Söhnen wurde Heinrich der Traum vom Germanistikstudium verwehrt. Um später in der Firma seiner Familie einsteigen zu können, schicke ihn sein Vater 1950 in den Süden der USA, um dort das Handwerk des Zigarrendrehens zu erlernen, aber auch um Tabak zu kaufen. Ein Weg, der ihm vorerst unnötig kompliziert erschien. Sein jüngerer Bruder Kaspar hingegen wurde zum Studium gedrängt und später in die Politik. Auch ihm erschien der vorausbestimmte Weg als wenig fruchtbar. «Heute sehen wir aber, wie richtig die Pläne unserer Familie waren. Ich arbeitete mich hoch zum erfolgreichen Firmeninhaber, und mein Bruder wurde Bundesrat für die FDP.» Während Kaspars Karriere als Bundesrat nach 14 Jahren endete, steht Heinrich immer noch an der Spitze des Unternehmens.



Selbstgemacht schmeckt am besten: Heinrich Villiger raucht am liebsten die eigene Marke.

Kaspar Villiger schreibt heute Essays und Kommentare für die Neue Zürcher Zeitung, sein Bruder Heinrich hat es jedoch nicht so mit dem Schreiben. Obwohl sein Wissen jedes Gegenüber erstaunen muss, bleibt er bescheiden. «Alles, was ich erzähle, findet man auch in Büchern», sagt er, «ich weiss nicht, wie oft ich schon gehört habe, ich solle selbst ein Buch schreiben, was aber nicht passieren wird.» Sein Wissen würde er gerne einer Nachfolgerin oder einem Nachfolger aus der Familie weitergeben. Doch eine Stabübergabe, wie es zuvor zweimal in der Familie Villiger der Fall war, werde es nicht geben. Zu wenig interessierten sich seine Nachkommen für den Betrieb. Das stimmt Heinrich Villiger nachdenklich: «Da habe ich es verpasst, das Feuer zu entfachen.» Einen seiner grössten Fehler nennt er dies, während seine Zigarre erlischt. 


Tizian Fürer wurde 1995 in Frauenfeld geboren und ist seither auch dort wohnhaft. Nach einer kaufmännischen Ausbildung im Hotel mit Berufsmatura startete er ein Praktikum bei der Thurgauer Zeitung. Auf den Geschmack des Journalismus gekommen, begann er 2019 ein Kommunikationsstudium an der ZHAW Winterthur. Neben dem Studium arbeitet er als Videojournalist beim Tagesanzeiger.

Pascal Kuba, 1998 in Österreich geboren, lebt seit seinem dritten Lebensjahr in der Nähe des ehemaligen Stumpenlands. Seine Leidenschaft für den Journalismus entdeckte er in der Bezirksschule während der Arbeiten an einer Schülerzeitung. Seither strebt er eine Karriere als Journalist an und hofft, in Zukunft über Historisches und Kulturelles berichten zu können.


Das Portrait entstand 2022 im Rahmen einer Kooperation von Industriekultur Spot mit dem IAM, Institut für Angewandte Medienwissenschaft an der ZHAW, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.