Melanie Mock – «Da wusste ich, dass wir mehr als nur eine Ausstellung gemacht haben»



Text & Bilder von Nikolina Pantic und Raca Wita                      



Melanie Mock kuratierte die Ausstellung «Zeit. Zeugen. Arbeit.», die vom Mai bis September 2018 im Museum Schaffen in Winterthur stattfand. Seit der Eröffnung 2017 werden dort Menschen und ihre Arbeitswelt in den Fokus gestellt. Mittelpunkt des Museums sind Themen rund um Arbeit in der Geschichte, Gegenwart und Zukunft. ZZA beleuchtete, wie sich die Arbeitswelt in der Schweiz seit 1960 verändert hat. Als ausgebildete Szenografin mit Vorliebe für Geschichte ist Mock zusätzlich für diverse Projekte wie «Industriekultur Spot» zuständig.

Die Szenografin Melanie Mock erweckt Industriegeschichte zum Leben. Für sie gibt es in der Schweiz mehr als genug Industriekultur, die vermittelt werden kann. Ein Gespräch über ihre Ausstellung «Zeit. Zeugen. Arbeit.» und Teilhabe in der Kulturvermittlung.



Dem Raum Dimension verleihen – dieses Potenzial weiss Melanie Mock mit ihrer Vorliebe für Industriekultur auszuschöpfen.

Die Ausstellung «Zeit. Zeugen. Arbeit.» (ZZA) hat überregionale Beachtung erfahren. Sie fand in der rund 1000 Quadratmeter grossen Rapidhalle in Winterthur statt. «Wenn man da drinsteht, hat man das Gefühl, man sei in einer Kathedrale», sagt Melanie Mock. Einen so grossen Raum zu bespielen, war eine Herausforderung. Gleichzeitig sollte das Industriefeeling bestehen bleiben. Das Ergebnis: Ein Ausstellungsparcours. «Der Grundriss ähnelte einem Flipperkasten, in dem die Besucher:innen wie Kugeln von Posten zu Posten geschleudert wurden», erklärt Mock. Obwohl die Ausstellung in der Vergangenheit liegt, lässt sie die Schöpferin Revue passieren, als ob wir Teil wären. Nun reisen wir noch ein Stück weiter in die Vergangenheit.

Das Wichtigste zuerst: Was ist eine Szenografin?

Seit dem Szenografie-Studium verdient Mock ihr Geld hauptsächlich mit ihrer Leidenschaft: Ausstellungen entwerfen und realisieren. Sie taucht jeweils ein in eine Welt, um sie dann künftigen Besucher:innen der Ausstellung begreifbar zu machen. Laut Mock sei die Auftragsgrösse ebenfalls ausschlaggebend. Denn je umfangreicher diese ist, desto mehr fühle sich ihre Arbeit als reine Dienstleistung an. 

Oft spielt für sie das Publikum eine wichtige Rolle. Es konsumiert die Ausstellung nicht nur, es ist manchmal sogar Teil davon. So wie in ZZA, wo die Besucher:innen ihr Erlebnis mitgestalten konnten; hier erkennt man Mocks Handschrift. Besonders bei der Teilhabe spüre man, dass Melanie Mock «die Möglichkeiten und Potenziale der Vermittlungsarbeit immer wieder von Neuem ausloten möchte», sagt Martin Handschin, die andere Hälfte des Projekts Industriekultur Spot.

Wie kam Mock zur Industriekultur, gab’s da einen Schlüsselmoment? 

Melanie Mock nickt. Sie blüht bei der Frage auf. Die Szenografin wuchs im Tösstal auf, inmitten von teils noch produzierenden, teils leerstehenden Textilfabriken. Sie habe dann 2017 mit dem Kollektiv «T_Raumfahrt» die Spinnerei im Neuthal für eine Inszenierung ausgewählt. Das Team recherchierte in der lokalen Industriegeschichte und sammelte Sagen aus dem Zürcher Oberland. Daraus entstand ein inszenierter Rundgang in History-Fiction-Manier. Dieses Projekt entzündete Mocks anhaltende Faszination für die Industriekulturvermittlung.

Weshalb etwas wiederaufleben lassen, das es nicht mehr gibt?

Mock überlegt kurz. Das tut sie oft im Gespräch. Der Blick zurück sei oft geprägt von Nostalgie. Sie nennt es das «Wir dazumals»-Gefühl. Aus der Sicht der älteren Generationen sind die porträtierten Personen von damals Helden. Helden, die im Kontext der heutigen Zeit keine mehr sind.

Melanie Mock ist nicht nur reflektiert, sie spricht auch leise. Ihre Stimme geht im Gastro-Lärm des Cafés, dem Treffpunkt unseres Gespräches, beinahe unter. Ihre Person setzt sich trotzdem durch. 

Mit wem beschäftigt sie sich in der Industriekulturvermittlung? 

«Hauptsächlich mit alten weissen Männern.» Es ist kein Vorwurf von Mock, es ist die Realität. Apropos Realität: Die Herren scheinen teilweise ihre eigene zu haben. Beispiel: Ein Verein erstellte einen Informationsweg über das Leben eines lokalen Dichters und fragte Mock für eine szenografische Beratung an. Der Dichter wurde als regionales Aushängeschild benutzt. Aber seine Homosexualität zu thematisieren: Das war ein No-Go für die Auftraggeber. Aus diesem und anderen Gründen hat sie den Auftrag abgelehnt. 



Den Wandel der Berufswelt konnte man bei «Zeit. Zeugen. Arbeit.» in Form einer Betriebsbesichtigung auf eigene Faust entdecken. Foto: Regula Lustenberger.

Wo lässt sich Industriekultur vermitteln?

Für Mock gibt es in der Schweiz tausende Orte, die spannend wären und über die man berichten könnte. «Die Frage ist nur, wer will das?» Oft fehle das Geld, das Interesse der Kantone und Gemeinden oder beides. Andererseits leuchtet ihr ein, dass nicht alles, was in der Schweiz seit Jahrzehnten herumsteht, erhalten werden kann. Da hat man dann die Qual der Wahl. Vermitteln oder nicht vermitteln? Das war bei ZZA nicht die Frage.

Was zeichnet die Ausstellung «Zeit. Zeugen. Arbeit.» aus?

ZZA funktionierte so: In einem Ausstellungsparcours erzählen Zeitzeug:innen aus ihrer Arbeitswelt. «Dafür haben wir vorgängig nach Mitwirkenden gesucht. Wir hatten den Wunsch nach Diversität, doch melden sich für solche Projekte klassischerweise Menschen mit ähnlichem Bildungsstand», sagt Mock. In der Erarbeitung zeigte sich dann jedoch, dass die Arbeits-Biografien der Mitwirkenden doch grosse Unterschiede aufwiesen. Von diesen 30 Personen waren neun pro Ausstellungstag anwesend. Es war von Tag zu Tag eine andere Ausstellung mit anderen Konstellationen. Besucher:innen trafen am einen Tag auf eine pensionierte Kiosk-Verkäuferin, an einem anderen auf eine 18-jährige Arbeitsnovizin.


«Da gab es Menschen, die das Leben lang in der gleichen Firma arbeiteten.»

Auch für die Protagonist:innen war diese Art von Vermittlung kein Zuckerschlecken. «Einige Personen stiegen bereits nach den ersten Wochen aus dem Projekt aus», sagt Mock. Zu persönlich sei ihnen das geworden. Verständlich: Bei manchen wird die Arbeit Teil des Lebens oder sogar der Persönlichkeit. «Da gab es Menschen, die das Leben lang in der gleichen Firma arbeiteten.» Wenn man etwas Persönliches aus dem Leben teile, spreche man über Schmerzhaftes, «dann kommen Brüche wieder hervor», sagt Mock. 



Melanie Mock und Martin Handschin bei der Entwicklung der Ausstellung mit den 30 freiwilligen Protagonist:innen – eine altersgemischte Gruppe mit Teilnehmenden von 18 bis 86 Jahren. Foto von Regula Lustenberger.



In der Ausstellung trafen frühere Realitäten auf neue Erfahrungen. Foto: Regula Lustenberger.

Mocks eindrücklichster Moment der Ausstellung: Als sie am Abend der Vernissage kurz vor Schluss durch die Halle ging. In dieser beleuchteten Bühnenwelt zwischen den einzelnen Stationen die letzten Gespräche und Geräusche der Menschen zu hören – das habe sie berührt. «Da wusste ich, dass wir mehr als nur eine Ausstellung gemacht haben.»


Nikolina Pantic, *1998, studiert Organisationskommunikation an der ZHAW in Winterthur. Als Winterthurerin ist sie seit Kindesalter mit der Industriekultur der Stadt vertraut. Heutzutage trifft sie auf die stadtbildprägenden industriekulturellen Orte. Sie besucht oftmals Konzerte im Gaswerk, das im ehemaligen Stromverteilerzentrum der Stadt liegt.  

Raca Wita, *1994, studiert Journalismus an der ZHAW in Winterthur. Vor dem Studium absolvierte er eine Lehre als Elektroinstallateur. Seine Begeisterung für das Schreiben führte ihn an die ZHAW.


Das Portrait entstand 2023 im Rahmen einer Kooperation von Industriekultur Spot mit dem IAM, Institut für Angewandte Medienwissenschaft an der ZHAW, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.