Michael Kistler – «Der Bernina-Express ist ein touristisches Produkt, das vermarktet werden muss »



Text & Bilder von Fabio Bleise und Luca Feurer    



︎︎︎ Bereits seit 2014 ist Michael Kistler für die Rhätische Bahn in diversen Funktionen tätig. Ab 2018 entwickelte er zusammen mit seinem Team das «InfoT(r)ainment»-Angebot als digitalen Reisebegleiter auf der Welterbe-Strecke des Bernina-Express. Kistler selbst ist grosser Fan des Panoramazugs. Auf seine Lieblingsstelle während der rund vierstündigen Fahrt zwischen Chur und Tirano angesprochen, nennt der Bündner das namensgebende Bernina-Gebiet mit den kristallblauen Seen oberhalb der Baumgrenze: «Ein durch und durch eindrückliches Erlebnis, immer wieder aufs Neue.»

︎︎︎ Videobeitrag
Um das Reiseerlebnis auf der Welterbe-Strecke des Bernina-Express zusätzlich zu steigern, hat die Rhätische Bahn ein «InfoT(r)ainment»-System als digitalen Reisebegleiter eingeführt. Michael Kistler ist der Mann hinter dem Projekt. Seine Mission: den Panoramazug in die Moderne führen.



Michael Kistler ist der Mann hinter dem Projekt. Der 50-jährige Bündner erklärt die Hintergründe zur Entstehung und Entwicklung des «InfoT(r)ainment»-Angebots. Quelle: Luca Feurer

Den Spagat zwischen Tradition und Moderne zu meistern, ist für viele alteingesessene Institutionen eine grosse Herausforderung. Michael Kistler kennt diese aus eigener Erfahrung bestens. Der 50-Jährige, den alle nur «Kischi» nennen, ist seit über neun Jahren bei der Rhätischen Bahn (RhB) in der Marketingkommunikation und im Vertrieb tätig. Er kümmert sich mit viel Leidenschaft um die zeitgemässe Vermarktung des Panoramazugs Bernina-Express auf einer der schönsten Bahnstrecken überhaupt. Seit 2008 gehört der Bernina-Express offiziell zum UNESCO-Welterbe.

Zentrales Element der Vermarktung ist das «InfoT(r)ainment»-Programm, eine Art digitaler Reisebegleiter, den die RhB um Projektleiter «Kischi» den Kunden des Bernina-Express seit 2018 zur Verfügung stellt. Auf dem eigenen Smartphone oder Tablet lassen sich hiermit Informationen und Funfacts rund um die Strecke, Sehenswürdigkeiten, Infos zur aktuellen Geschwindigkeit und Meereshöhe, ja sogar etwaige Verspätungen oder OnBoard-Angebote der Minibar abrufen. 

Unternehmensintern nennt man das Programm gerne «Kischis Baby». Kistler selbst bezeichnet das «InfoT(r)ainment»-Angebot als eine «Herzensangelegenheit». Man spürt während des Gesprächs, wie viel ihm das Projekt bedeutet, wenn er ausführlich und detailliert von den Hintergründen der Entwicklung des Programms berichtet, hier noch einen Funfact liefert und da nochmal die technischen Herausforderungen bei der Installation des Systems in die Waggons erklärt. Natürlich stilecht im Bündner Dialekt. 



Eine der schönsten Bahnstrecken überhaupt: der Bernina-Express, seit 2008 UNESCO-Welterbe. Hier der Streckenabschnitt im Albulatal. Quelle: RhB Medienportal



Mit dem «InfoT(r)ainment»-Angebot können die Fahrgäste Informationen rund um den Bernina-Express in Echtzeit während der Fahrt konsumieren. Quelle: Luca Feurer

Eine Zugfahrt in Tschechien als
Initialzündung

Die Idee für das neue Angebot kam Kistler vor sieben Jahren auf einer Studienreise nach Tschechien. Gemeinsam mit seinem Chef war er in einem gewöhnlichen Pendlerzug zwischen Prag und Ostrava unterwegs. «Da nahm ich zum ersten Mal Notiz vom Infotrainment der tschechischen Staatsbahnen – und war sofort begeistert davon.» Ihm war klar: So etwas braucht auch der Bernina-Express. Kistler informierte sich umgehend über den Entwickler des Programms, kam dann schnell mit einem kleinen Prager Start-up in Kontakt. Und die Geschichte nahm ihren Lauf.

«Wir wollten weg von den Unmengen an Papier, die wir für Flyer und analoge Kampagnen benötigt haben.»


So wurde das neue Angebot zu einem wichtigen Puzzleteil in der von der RhB schon vor einigen Jahren lancierten Digitalisierungskampagne. Michael Kistler erklärt: «Wir wollten weg von den Unmengen an Papier, die wir für Flyer und analoge Kampagnen benötigt haben.» Das passe einfach nicht mehr in die heutige Zeit. «Stattdessen wollen wir dynamischer sein und Informationen in Echtzeit vermitteln.» Wie kam es zum Beispiel zum Bau des Landwasser-Viadukts? Seit wann ist die Strecke elektrifiziert? «Solche Fragen kann man zwar in Büchern beantworten, aber das liest während einer Panorama-Fahrt kein Mensch», sagt Kistler und betont im selben Atemzug: «Eine Fahrt mit dem Bernina-Express ist per se schon ein schönes Erlebnis, wir bereichern es nun noch audiovisuell.»



Die Fahrgäste können ihr eigenes Smartphone oder Tablet verwenden. Hier eine beispielhafte User-Ansicht beim Kreisviadukt in Brusio. Quelle: Luca Feurer

Doch bei aller Romantik und Innovation, die das Projekt vereint: Komplett ausgereift ist das System noch nicht. Eine fehlende durchgängige Netzabdeckung entlang der Strecke, WLAN-Ausfälle, veraltete Server, der schnelle technologische Wandel, bei dem es mitzuziehen gilt: Die Liste der Stellschrauben ist lang. Das weiss auch Kistler: «So ein Projekt ist natürlich nie abgeschlossen, wir tüfteln stetig an der Verbesserung des Produkts.» Seinem Team und ihm selbst schwirren noch weitere Ideen im Kopf herum. Der Einbau von Augmented-Reality-Elementen oder einer Lokführer-Kamera sowie die Möglichkeit, direkt via App Kaffee und Gipfeli an den Platz zu bestellen. Noch ist das alles Zukunftsmusik.

Dem Projekt nach wie vor eng verbunden

Kistler sieht dies weniger als Bringschuld denn als Herausforderung. Er ist angetrieben von der Idee, den Bernina-Express in die Moderne zu führen: «Ich arbeite seit vielen Jahren für die RhB, mir sind die Geschicke des Unternehmens ans Herz gewachsen.» Auch wenn er mittlerweile intern die Stelle gewechselt hat, seinem Herzensprojekt bleibt Kistler weiter verbunden. Als Leiter Vertriebsmanagement ist er seit Januar 2022 für alle Vertriebssysteme und Innovations-Themen rund um den Vertrieb wie den Webshop, die App oder die Webseite sowie für klassische Betriebskanäle wie Automaten zuständig. Er ist nun zwar nicht mehr inhaltlich, aber weiter technisch verantwortlich für ein funktionierendes «InfoT(r)ainment»-Angebot. 


«Der Bernina-Express ist nun mal viel mehr als nur ein Zug, der von A nach B fährt.»


Die Kunden-Perspektive steht für den Marketing-Profi Kistler im Mittelpunkt: «Der Bernina-Express ist nun mal viel mehr als nur ein Zug, der von A nach B fährt. Er ist ein touristisches Produkt, das vermarktet werden muss.» Dazu brauche es innovative Ideen und auf den Bernina-Express zugeschnittene Vermittlungsangebote, wie eben das «InfoT(r)ainment»-Projekt. Es hebt sich damit vom klassischen Audioguide ab, den es auch an vielen anderen touristischen Destinationen gibt. «Auch der ICE in Deutschland hat ein Infotrainment, insofern haben wir das Rad sicher nicht neu erfunden», gibt sich Kistler zwar bescheiden, weist aber darauf hin, dass es bei einem Pendlerzug mehr um blosse Unterhaltung als um die attraktive Vermittlung industriekultureller Meilensteine geht. Das «InfoT(r)ainment»-Angebot im Bernina-Express ist in dieser Hinsicht der ambitionierte Versuch, den Spagat zwischen Tradition und Moderne mit der Vermittlung bau- und technikgeschichtlicher Highlights möglichst zeitgemäss hinzubekommen.


Fabio Bleise, *2001, studiert Kommunikation an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Winterthur und sammelte in einigen Praktika erste journalistische Erfahrungen. Der leidenschaftliche Fussballer arbeitet neben dem Studium für die Sportredaktion der Schaffhauser Nachrichten.

Luca Feuer, *2000, studiert ebenfalls Kommunikation an der ZHAW in Winterthur. In seinen diversen Praktika arbeitete er unter anderem in der Statistikabteilung der Swiss Football League, als Kameramann bei einer Videoproduktionsfirma und als Videojournalist beim Regionalfernsehsender TV Südostschweiz.

Das Portrait entstand 2023 im Rahmen einer Kooperation von Industriekultur Spot mit dem IAM, Institut für Angewandte Medienwissenschaft an der ZHAW, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.