Michael van Orsouw – «Man muss die Blume neben der Strasse sehen»



Text & Bilder von Primus Ettlin und Manuela Humbel  



Michael van Orsouw hat Niederlandistik, politische Wissenschaften sowie allgemeine Geschichte studiert. Danach folgten Ausbildung an der Ringierjournalist:innenschule, Schreib- sowie Sprechkurse und Arbeit bei diversen Zeitungen und Zeitschriften. Heute ist der promovierte Historiker freischaffend und vermittelt Geschichte. Das in Form des Industriepfads Lorze, der Geschichtsplattform Chamapedia oder des Krienser Industriewegs. Seit Ende seines Studiums habe es ihm den Ärmel reingezogen: «Die Thematik lässt mich nicht mehr los. Oder besser: Ich lasse sie nicht mehr los.»
Er steht auf der Bühne, musiziert oder vermittelt Geschichte. Michael van Orsouw macht viel. Als Kulturvermittler und Historiker konzentriert er sich auf die Details am Wegesrand der Geschichte. Zum Beispiel die Industrialisierung des einst beschaulichen Dorfes Kriens.



Der selbsternannte literarische Allgemeinpraktiker Michael van Orsouw in seiner «Praxis». Hier schreibt er Texte, Bücher oder Hörspiele. Mit seinen Projekten steht er auch auf der Bühne und pflegt nach eigenen Angaben «die Gattung der geistreichen Unterhaltung». Foto: zVg

Er nennt sich literarischer Allgemeinpraktiker, trägt einen weissen Kittel, in der Brusttasche stecken Kugelschreiber und ein Mikrofon: So tritt der 58-jährige Michael van Orsouw aus Zug auf. Aber was macht eigentlich ein sogenannter «lit. Allg. pract. » In seiner «Praxis»? Die Antwort ist einfach: Der promovierte Historiker schreibt – sei es für die Bühne, für Publikationen in verschiedenen Fach- und Literaturmagazinen, fürs Radio, Fernsehen oder Bücher. Zusammen mit seiner Frau Judith Stadlin bildet er das Duo «Satz und Pfeffer». Sie wagen sich an literarische Experimente, so entwickelten sie eine Sprache, die nur aus Ortsnamen besteht – und erzählen damit ganze Geschichten. «Je enger die Rahmenbedingungen gesteckt sind, desto kreativer muss man sein», sagt van Orsouw. «Das kann einen wirklich beflügeln.»

«Mich interessiert der Feldweg, nicht die Autobahn.»


Das «Storytelling» begleitet Michael van Orsouw schon länger. Bevor er sich als Historiker selbstständig gemacht hat, hat er jahrelang als Journalist gearbeitet. Bei Wochen- und Monatsmagazinen, aber nie im tagesaktuellen Journalismus. «Das ist Schnellfutter.» Es interessiere ihn zu wenig, «einfach einen Newsfeed zu füttern. Das ist oberflächlich.» Heute arbeitet van Orsouw nicht mehr journalistisch. «Ich bin von Natur aus kein Typ, der immer das Gleiche machen will.»



Nicht nur allein steht der promovierte Historiker auf der Bühne, sondern auch mit seiner Frau Judith Stadlin. Zusammen bilden die beiden das Duo «Satz und Pfeffer». Hier performten sie das «Ortsnamenprogramm» in Berlin. Also ein Gespräch, das nur aus Ortsnamen besteht und in dem sie ganze Geschichten erzählen. Foto: zVg

Kriens, der industrielle Vorhof Luzerns 

Das jüngste Projekt aus der Feder van Orsouws ist der Krienser Industrieweg. Zusammen mit der Luzerner Agentur Velvet hat er den Zuschlag für das Projekt erhalten. Der öffentliche Raum in der stetig wachsenden Stadt Kriens ist begrenzt. So war für van Orsouw schnell klar, dass der Industrieweg ohne grosse Informationstafeln und aufwändige Installationen auskommen soll. Die App «IK Kriens» wurde geboren. Mit der App kann man sich auf einen Rundgang durch Kriens machen und erhält an zahlreichen Stationen Informationen zum jeweiligen Standort.

Zu sehen ist unter anderem die alte Teiggi, in der jahrzehntelang Teigwaren für die ganze Schweiz produziert wurden. Oder man entdeckt die Wasserräder am Krienbach, die heute noch hinter dem Feldmühleschulhaus stehen. Die Wasserkraft des Krienbachs stand am Ursprung der Industrialisierung Kriens. Entlang des Bachs siedelten sich viele Gewerbler an, die in der Stadt Luzern keinen Platz mehr fanden.  



Der Krienser Industrieweg führt zum Beispiel zur alten Teiggi. Hier wurden jahrzehntelang Teigwaren für die ganze Schweiz produziert. Jetzt bietet die heutige Genossenschaftssiedlung Platz für Wohnungen und Ateliers. Foto: Wohnwerk Luzern

Unterwegs abseits der Autobahn

Dies geschah alles in einer Zeit, die van Orsouw besonders fasziniert. «An der Industriekultur kann man viel ablesen. Man sieht, was im Laufe der Zeit passiert ist. Man kann komplexe Prozesse entblättern, wie das in einem anderen Geschichtsbereich kaum möglich ist.» Die Entwicklungen dieser Zeit will er seinem Publikum näherbringen, aber nicht, indem er die trockenen Fakten wiedergibt. «Viele Historikerinnen und Historiker sind metaphorisch gesehen auf der Autobahn unterwegs.» Auf der Autobahn finde man die wichtigen Eckdaten der Industrialisierung. Um Inhalte gut vermitteln zu können, müsse man aber nicht nur die Autobahn sehen, sondern auch die Hauptstrasse, die Nebenstrasse – oder den Feldweg.

Michael van Orsouw spricht oft in Sprachbildern. Und er sucht Geschichten, die nicht in allen Geschichtsbüchern stehen – eben auf diesen Feldwegen. «Und vielleicht interessiert mich nicht einmal dieser Feldweg, sondern das Blümlein, das daneben wächst.» Der «Feldweg» könnte für die Verwandlung vom bäuerlichen in das industrielle Kriens stehen. Das Blümlein neben dem Feldweg, das könnte die persönliche Familiengeschichte eines Gerbers sein, der nach Kriens zog, weil dort der Krienbach die nötige Energie für die Maschinen lieferte, die er zur Verarbeitung von Tierhäuten brauchte.

Es kommt auf die Art der Vermittlung an 

Durch seine Bühnenerfahrung kann Michael van Orsouw einschätzen, was die Leute interessiert und wie man sie mittels solcher persönlichen Geschichten berühren kann. Die Lebenswelt der Menschen mit dem Wissen über die Industriekultur verknüpfen, so könne man Geschichtsinhalte am besten vermitteln – quasi ein «didaktisches Geheimrezept». Grundsätzlich sage man bei Geschichtsprojekten nämlich immer, dass man alle ansprechen wolle. «Aber, wenn wir ehrlich sind, dann ist das nicht immer so. Wenn man ein Fachbuch mit 500 Seiten und 800 Fussnoten schreibt, dann ist das nicht für alle zugänglich.» Der Krienser Industrieweg soll aber alle ansprechen von Jung bis Alt. Das sei auch möglich. «Jeder Geschichtsbereich, der gut erzählt und gut präsentiert ist, kann Kinder genauso ansprechen wie 70-Jährige», sagt van Orsouw. 

Industriekultur-Erfahrung per App 

Die Erzählung der Industriegeschichte Kriens geschieht per Smartphone. Die App führt Interessierte zu vielen versteckten Perlen, und es sollen noch mehr werden. Denn durch die moderne Gestaltung des Industriewegs wird der gesamten Bevölkerung eine Beteiligung ermöglicht. Private können Standorte aus der eigenen Geschichte und den eigenen Bezug zur Industriekultur in den Weg integrieren. Ein zusätzlicher Vorteil der App.



Eines von Michael van Orsouws vielen Projekten ist der Krienser Industrieweg. Hier kann auf fünf verschiedenen Touren durch Kriens die Stadt mit ihren Geschichten aus der Industrialisierung entdeckt werden. Foto: zVg

Für van Orsouw ist es kein Problem, dass in der modernen Welt vieles kurz, knapp und social-media-tauglich sein muss. Solange noch weitere Informationen geliefert würden. «Wenn man durch einen ‹fancy› Aufhänger auf vertiefte Informationen gelangt, dann finde ich das eine gute Form», sagt van Orsouw. Ob geschrieben oder gesprochen, auf Papier oder auf einem Screen, 400 Seiten oder 400 Zeichen: Van Orsouw scheut das Oberflächliche und sucht die Tiefe – immer mit dem Auge für die nächste Blume am Strassenrand.


Primus Ettlin, *1997, studiert im letzten Semester Journalismus an der ZHAW in Winterthur. Neben dem Studium arbeitet er in einem Teilpensum für das Schweizer Fernsehen, als freier Journalist für das Regionaljournal Zentralschweiz und schreibt Kolumnen für eine Zeitung. Als gelernter Schreiner interessiert ihn das Handwerk und die Industrie der Neuzeit und der Vergangenheit.

Manuela Humbel, *1998, studiert im letzten Semester Kommunikation mit der Vertiefung Journalismus an der ZHAW in Winterthur und arbeitet nebenbei in Basel als freie Journalistin. Sowohl in der Stadt am Rheinknie als auch in der «Kulturstadt» ist sie umgeben von Industriekultur und lässt sich gerne von den «kleinen» und grossen Geschichten und Menschen begeistern und mitreissen.

Das Portrait entstand 2023 im Rahmen einer Kooperation von Industriekultur Spot mit dem IAM, Institut für Angewandte Medienwissenschaft an der ZHAW, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.