Monika Stahel  – «Ich bringe den Leuten das Museum direkt vor die Füsse» 



Text & Bilder von Isabel Gajardo und Rowena Goebel    



Monika Stahel *1947 ist gelernte Dekorateurin und eröffnete in den 1980er-Jahren einen Kostümverleih in Schaffhausen. Bald erweiterte sie ihre Sammlung von historischen Kleidern auf alle möglichen Gegenstände aus früheren Zeiten. Heute ist ihr Haus zur Gewesenen Zeit noch immer ein Kostümverleih, aber auch ein Museum. Ihre Sammlung befindet sich inzwischen in Diessenhofen TG, wo Stahel auf Anfrage Weihnachtsessen, andere Events und Museumsführungen anbietet. Am letzten Freitag des Monats ist das Museum auch ohne Anmeldung für die Öffentlichkeit zugänglich.

︎︎︎ Videobeitrag
Monika Stahel ist leidenschaftliche Gestalterin und Sammlerin. Aus ihrem Kostümverleih mit Originalkleidern aus den letzten beiden Jahrhunderten ist über die Jahre das «Haus zur Gewesenen Zeit» entstanden. Ein Museum, das eigentlich keines ist – «das sind einfach meine Sachen».



Würde am liebsten die Zeit zurückdrehen: Monika Stahel im Haus zur Gewesenen Zeit. Foto Isabel Gajardo



Die erste Schiedsrichterin der Schweiz: Da der Schweizerische Fussballverband keine offizielle Frauen-Teams wollte, wurde Monika Stahel stattdessen zur Unparteiischen. Foto Isabel Gajardo

Im ehemaligen Bahnhof-Restaurant von Diessenhofen TG vermischt sich ein Song von Elvis mit dem Rauschen des Regens auf der Terrasse. Deckenhohe Bücherregale, alte Klaviere und historische Fotografien zieren das Erdgeschoss des Hauses. Zu all den Gegenständen, die Monika Stahel hier aufbewahrt und ausstellt, kann sie eine Geschichte erzählen.

«Das bin ich», sagt die 75-Jährige und zeigt auf ein Schwarzweiss-Foto in einer «Schweizer Illustrierten» aus den 1960er-Jahren. Abgebildet: Eine junge Frau mit kurzen blonden Haaren im Schiedsrichterinnendress auf dem Rasen. «Da war ich 18», erinnert sie sich. «Das ist das Prüfungsturnier in Olten für die ersten Schiedsrichterinnen der Schweiz.» Mit derselben Leidenschaft, mit der sie sich damals in der Männerdomäne Fussball durchsetzte, führt sie heute ihr Museum.

Küchenutensilien, Fabrikarbeiterhosen und Ski-Sammlungen

Industriegeschichte hat Monika Stahel zufällig eingefangen, wie sie sagt. So befindet sich ein Teil ihrer Ausstellung in einem kleinen Fabrikgebäude neben dem Haupthaus. «Ich weiss gar nicht genau, was es früher einmal war. Aber ich nehme an, dort wurden maschinell Strümpfe gestrickt, denn ich habe immer wieder Wollknäuel gefunden», erzählt sie. Überall in diesem Haus zur Gewesenen Zeit finden sich Hinweise auf Industriegeschichte – zahlreiche alte Küchenutensilien, eine riesige Ski-Sammlung, Flaschen und alte Arbeiterhosen.



Das Erdgeschoss beherbergt neben Büchern und Schallplatten auch historische Kameras und Schulranzen. Foto Isabel Gajardo



Altmodisch nachhaltig: Die Damenbinden wurden früher von Hand gestrickt. Foto Isabel Gajardo

Mit jugendlichem Elan führt Monika Stahel durch ihr Haus, zieht hier einen Frack hervor, deutet da auf einen Hut und erzählt dabei, wie sie sich über die Jahre in zahllosen Brockenhäusern ihre Kleider zusammensuchte. Sie ist nicht nur Sammlerin, sie lebt auch in und mit den Objekten. Ihre Stube, die Küche, das Bad, alles ist so detailverliebt eingerichtet, dass sich Wohnraum kaum von Museum unterscheiden lässt. Sogar die Damen-Toilette ist ein kleines Museum: Hier stapeln sich verschiedene Damenhygiene- und Kosmetikprodukte aus vorindustrieller Produktion.

«Das sind einfach meine Sachen, und die sind zum Brauchen da.»


Damit will Stahel Geschichte nicht nur sichtbar, sondern erlebbar machen. «Ich liebe es, dass ich einfach Originale hervornehmen kann», sagt sie und zeigt eine Zeitung über die Oktoberrevolution 1917. Gross auf der Titelseite abgedruckt: ein Bild von Lenin. «Im Landesmuseum gab es eine Ausstellung dazu. Bei ihnen war die Zeitung hinter Glas, aber bei mir kann man einfach durchblättern.» Dasselbe gilt für ihre Schallplattensammlung: Alles wird regelmässig abgespielt. «Das sind einfach meine Sachen, und die sind zum Brauchen da», meint Stahel achselzuckend.

«Ich will, dass die Leute sich fühlen, als wären sie ein Fabrikarbeiter im frühen 20. Jahrhundert»

Obwohl sie Dinge sammelt und ausstellt, sieht sich Stahel nicht als Museumsdirektorin. Und ihre Leidenschaft gilt auch nicht der Geschichte. «Das Historische steht für mich nicht im Vordergrund. Mich interessiert das Gestalterische, dass das Gesamtbild stimmt», erklärt die gelernte Dekorateurin.

Das Haus zur Gewesenen Zeit begann in den 1980er-Jahren als Kostümverleih. Das ist es auch heute noch. Für Mottopartys, Theater-Aufführungen oder auch Filmproduktionen von SRF und Co. stellt Stahel Kostüme zusammen.

Was sie aber nicht macht: «Verkleiden. Ich will, dass die Leute sich fühlen, als wären sie ein Fabrikarbeiter im frühen 20. Jahrhundert, wenn sie bei mir hinausgehen.» Fühle sich eine Person verkleidet, müsse man noch einmal anfangen.

Am liebsten veranstaltet Monika Stahel mit ihrer Sammlung sogenannte Inszenierungen. Dabei bringt sie eine Gruppe Personen zusammen, die sie aufeinander abgestimmt in historische Outfits einkleidet und dann in die Öffentlichkeit schickt. «Das gibt jeweils ganz viele Reaktionen», lacht sie.

«Ich bringe den Leuten das Museum direkt vor die Füsse.»


Dass sie mit ihren Inszenierungen Identität stiftet und den Leuten eine Idee vom Leben ihrer Vorfahren vermittelt, ist für sie eher ein Nebenprodukt. «Ich will zeigen, wie die Dinge früher waren, wie sie gemacht wurden, ohne den Anspruch zu haben, dass es exakt so war.» Dabei habe sie immer gesagt: «Ich bringe den Leuten das Museum direkt vor die Füsse.»

Erleben, wie es damals war

Stahel bekommt auch Anfragen von Schulen. «Einmal zum Beispiel wollten zwei Lehrerinnen den Schulkindern zeigen, wie man früher Wäsche machte. Sie haben dann alles nötige Zubehör mitgenommen und mit den Kindern die Kleider von Hand gewaschen», erinnert sie sich. «Ich finde das super, gerade für die Jungen. Was willst du denen Theorie beibringen? Du musst ihnen zeigen, was war, so, dass sie es erleben können.»



Monika Stahel hört gerne Musik und lässt regelmässig Schallplatten aus ihrer Sammlung laufen. Foto Isabel Gajardo

Obwohl sie ihren Besuchenden und Kostümverleih-Kundinnen und -Kunden eine Reise in vergangene Zeiten bietet, möchte Monika Stahel selbst nicht zurück in die Vergangenheit. Der Gedanke an die Möglichkeit einer Zeitreise stimmt sie melancholisch. «Ich würde in der Gegenwart leben, aber 40 Jahre jünger sein», sagt sie. «Das hier ist mein Lebenswerk. Ich liebe meine Ausstellung und ich hätte sie gerne noch länger.» Sie habe schon immer mit der Vergänglichkeit gehadert. «Und da bin ich jetzt. Das ist nicht schön.» Vielleicht auch deshalb hat sie sich noch wenig Gedanken darüber gemacht, was mit ihrem Haus passieren soll, wenn sie eines Tages nicht mehr arbeiten mag. «Dabei meine ich eigentlich schon, dass es weitergehen sollte.»


Isabel Gajardo, *1990, wühlt seit ihrer Kindheit gerne in den Kleiderschränken ihrer Mutter und Grossmutter und staunt über die alten Schätze, die sich darin finden. Beruflich widmet sie sich aber lieber dem Erzählen von Geschichten. Darum studiert sie Kommunikation an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und trifft gerne auf Menschen mit spannenden Lebenswegen.

Rowena Goebel, *1997, studiert Kommunikation an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Seit sie klein ist, interessiert sie sich für Geschichte, insbesondere für historische Kleider. Fasziniert hat sie aber auch immer schon, wie Geschichte erlebbar wird. Bereits als Kind war eines ihrer Lieblingsausflugziele deshalb das Freilichtmuseum Ballenberg im Kanton Bern.

Das Portrait entstand 2023 im Rahmen einer Kooperation von Industriekultur Spot mit dem IAM, Institut für Angewandte Medienwissenschaft an der ZHAW, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.