Nora Baur  – «Das Museum lebt, solange die Maschinen laufen»



Text & Bilder von Jorina Kessler und Lea Schepers    



Nora Baur ist 1986 in Bremen geboren. Ab 2008 studierte sie in Bern Textilkonservierung und -restaurierung. Anschliessend promovierte sie und fokussierte sich dabei auf die Textilindustrie im 19. Jahrhundert. Ihrem historischen Interesse kann sie als Leiterin des Museums Neuthal im Zürcher Oberland weiter nachgehen. Das Museum befindet sich auf dem Areal der ehemaligen Spinnerei des Zürcher Unternehmers Adolf Guyer-Zeller und zeigt eine ausführliche Sammlung von Textilmaschinen aus dem 19. und 20. Jahrhundert.

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Im Museum Neuthal im Zürcher Oberland laufen heute noch jahrhundertealte Textilmaschinen. Bedienen können sie wenige Senior:innen, die einst selbst in diesem Bereich gearbeitet haben. Wie ihr Wissen zukünftig vermittelt wird, muss die Museumsleiterin Nora Baur herausfinden.



Nora Baur hält seit zwei Jahren als Museumsleiterin «die Fäden zusammen». Foto: Jorina Kessler

Es ist ein regnerischer Mittwoch. Kein Sonnenstrahl schafft es an diesem Tag ins Tösstal. Nora Baur sitzt trotz betrüblichem Wetter munter im Büro. Sie leitet seit zwei Jahren das Museum Neuthal. «Ein Ort, der industriekulturell übernationale Bedeutung hat», sagt sie.

Das Museum befindet sich auf dem ehemaligen Areal der Spinnerei des Zürcher Unternehmers Adolf Guyer-Zeller im Zürcher Oberland. Ab 1827 wurden auf dem Gelände Baumwollballen zu Garn verarbeitet, seit rund dreissig Jahren steht hier ein Museum. Das Areal umschliesst mehrere Gebäude, darunter die Fabrikantenvilla mit Parkanlage und Springbrunnen, eine Wasserkraftanlage und das Haupthaus. In diesem stehen historische Textilmaschinen, anhand derer der frühere Verarbeitungsprozess der Baumwolle genau nachgezeichnet werden kann. «Fast nirgendwo im deutschsprachigen Raum funktionieren noch so viele wie hier», sagt Baur stolz. Die Maschinen stammen aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Sie erinnern an die Blütezeit der schweizerischen Textilindustrie.

«Die funktionierenden Maschinen sind unser Alleinstellungsmerkmal», sagt Nora Baur. Ohne diese wäre das Museum leblos und das ganze Konzept würde zusammenfallen wie ein Kartenhaus. Am Betrieb und der Wartung der Maschinen sind 80 Freiwillige beteiligt, darunter vier Frauen. Die meisten sind über 70 Jahre alt. Viele von ihnen arbeiteten einst selbst in der Textilbranche. Die Freiwilligen führen die Besuchenden durch das Museum und halten die Maschinen in Stand. 



100 Freiwillige kümmern sich um die Maschinen und führen die Besuchenden durch das Museum. Hans Kappeler ist einer von ihnen; er leitet die Spinnerei. Foto: Jorina Kessler

Nora Baur arbeitet eng mit ihnen zusammen. Sie kümmert sich dabei um koordinative und kommunikative Aufgaben. Vieles laufe durch die Erfahrung der Freiwilligen von ganz alleine, sagt Baur bescheiden. «Ich halte vor allem die Fäden zusammen.» Baur kommt aus Norddeutschland, zog 2008 in die Schweiz nach Bern, um Textilkonservierung und -restaurierung zu studieren. Das Arbeiten mit Stoff begeisterte sie früh: Schon als Dreijährige bastelte sie ihren Kuscheltieren Kleidung, als Teenager nähte sie sich Schlaghosen aus Cord. Nach dem Studium promovierte sie an der Universität Bern und sammelte berufliche Erfahrungen beispielsweise als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Landesmuseum. Nach der Geburt ihres Sohnes kam sie im November 2020 ins Museum Neuthal. Hier hätten sie vor allem die vielfältigen Aufgaben und die Einzigartigkeit des Ortes gereizt. «Das ist ein Glück, es gibt nicht viele solcher Stellen», sagt Baur.



Das Museum zeigt den kompletten Produktionsablauf von den einzelnen Fasern zum Stoff. Foto: Jorina Kessler 

Gleichzeitig begegnet sie hier einer ihr bisher unbekannten Herausforderung. Es ist absehbar, dass sich die Freiwilligen aufgrund ihres Alters nicht mehr sehr lange im Museum engagieren können. «Die Frage, wie ihr Wissen auch in Zukunft authentisch vermittelt werden kann, stellt sich mir sehr», sagt Baur. Diese Know-How-Sicherung brauche viel mehr Bemühungen als bisher angenommen. Nora Baur begegnet dieser Aufgabe mit typisch norddeutscher Nüchternheit. «Natürlich beschäftigt mich das Aussterben des Wissens sehr», sagt sie. Aber es stehen viele neue Ideen im Raum.

«Die Frage, wie wir das Wissen der vielen Freiwilligen speichern können, beschäftigt mich sehr.»


Die Freiwilligen beteiligen sich aktiv daran, ihre Expertise zu archivieren. Ausserdem sei es sogar ein Vorteil, dass das Museum noch etwas unter dem Radar der Öffentlichkeit sei, sagt Baur. «Wir können ausprobieren und dabei lernen.»



Die älteste Spinnmaschine im Museum ist über 150 Jahre alt. Foto: Jorina Kessler

In den kommenden Jahren wird das Museum umgebaut. Die Räume sollen den Bedürfnissen der Museumsbesuchenden angepasst werden. In diesem Zuge überarbeitet Baur auch das bisherige Vermittlungskonzept. «Ich halte wenig von QR-Codes, weil ich es schade finde, wenn die Besuchenden einen so greifbaren Prozess über den kleinen Bildschirm eines Smartphones erklärt bekommen», sagt Baur. Es brauche aber ganz klar eine digitale Vermittlung, die es schaffen müsse, die Authentizität der Freiwilligen mit ihren Anekdoten aus der Vergangenheit herüberzubringen. In den Museumsräumen stehen heute bereits einige Bildschirme. Sie zeigen Erklärvideos, die zum Beispiel Einblicke in das Innenleben einer Spinnmaschine liefern. Baur will zukünftig mehr Video- und Tonaufnahmen einsetzen, die von den Freiwilligen mitgestaltet werden. Um all diese Veränderungsprozesse während des alltäglichen Betriebs des Museums zu gestalten, braucht es viel Innovationskraft von allen Beteiligten. 



Das Museum Neuthal zeigt auf innovative Weise die Geschichte der Textilindustrie des Zürcher Oberlandes. Foto: Jorina Kessler

Das Museum kann von Mai bis Oktober jeden Sonntag besucht werden. Für Familien gibt es eine Rätseltour über das Areal. Daneben bieten die Freiwilligen das ganze Jahr über Führungen an für private Gruppen, Vereine oder Schulklassen. Weil sich die Freiwilligen in einzelnen Bereichen besonders gut auskennen, zum Beispiel in der Weberei, fokussieren sie sich in den Führungen auf diese. Seit Kurzem gibt es eine Gesamtführung, die weniger in die Tiefen der einzelnen Bereiche geht und so einen niederschwelligen Zugang zum Überthema der Industrialisierung liefert. «Wenn es ums Lernen und Vermitteln geht, dann spielt das Mitmachen bei uns eine ganz wichtige Rolle», sagt Baur. Die Besuchenden sollen Sachen anfassen und ausprobieren können. Ziel ist es, dass sich die Freiwilligen und die Besuchenden vermischen, dass es keine Trennung zwischen Laien und Experten, sondern eine gemeinsame Gruppe gibt. So entsteht ein Ort von kultureller Teilhabe.


Jorina Kessler, *1999, studiert Journalismus und Kommunikation an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Winterthur. Sie ist in Basel geboren und aufgewachsen und schloss dort die Maturität ab. In ihrer Kindheit und Jugend besuchte sie öfters die Papiermühle in Basel. Die Besuche bleiben ihr bis heute in Erinnerung, auch wegen der leckeren Rüeblitorte.

Lea Schepers, *1999, studiert ebenfalls Journalismus und Kommunikation an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Winterthur. Dort ist sie auch aufgewachsen. Mit der Wiederbelebung des Sulzer-Areals durch verschiedene Freizeitangebote verschlug es sie in den letzten Jahren regelmässig in das historische Industriegebiet von Winterthur.

Das Portrait entstand 2023 im Rahmen einer Kooperation von Industriekultur Spot mit dem IAM, Institut für Angewandte Medienwissenschaft an der ZHAW, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.