Petra Hornung – «Oft ist den Leuten nicht bewusst, wie spannend ihre Geschichte ist»



Text & Bilder von Niels Bossert und Davide De Martis    



Der Kanton Thurgau pflegt eine lange Tradition in der Textilindustrie und zählt zahlreiche Betriebe, unter anderem die Vigognespinnerei Pfyn, die nebst der Spinnerei und Färberei auch Knecht-Wohnungen und eine Einfamilienhaus-Siedlung auf dem Gelände hatte. Der ursprüngliche Besitzer des Betriebs besass auf dem Gelände sogar einen Hirschpark. Das und mehr erzählt der ehemalige Schichtmeister und spätere Betriebsleiter Werner Herzog im Webarchiv meineindustriegeschichte.ch.

︎︎︎ Videobeitrag
Der Kanton Thurgau blickt auf eine reichhaltige Industriegeschichte zurück. Diese steht im Schatten des «Mostindien»-Images. Die Historikerin Petra Hornung möchte das mit einem Projekt ändern. Dafür taucht sie in die Vergangenheit der Thurgauer:innen ein.


Bereits im Studium interessierte sich Petra Hornung für Oral History.

In Basel wurden während der Industrialisierung wichtige chemische Entdeckungen wie die Synthese von Aspirin gemacht. Zürich hat den Finanzplatz und geniesst zusammen mit St. Gallen den Ruf als grösster Textilproduzent der Schweiz. Bern beherbergte einen Grossteil der Maschinenindustrie des Landes. Und der Kanton Thurgau? Das ist doch im Volksmund der Apfel- und Landwirtschaftskanton.

Petra Hornung, Sammlungskuratorin im Historischen Museum Thurgau, weiss, dass das sogenannte Mostindien mehr zu bieten hat: «Aus dem Thurgau stammen Exportschlager wie die Sigg-Flaschen und die Nähmaschinen von Bernina.» Bis in die 1970er-Jahre arbeitete rund die Hälfte aller Thurgauerinnen und Thurgauer in der Industrie. Hornung hat es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Geschichten zugänglich zu machen. 



Im Thurgau wurden auch die für die Lebensmittelaufbewahrung revolutionären Konservenbüchsen hergestellt.

Als Kuratorin für Sammlungen aus dem 19. und 20. Jahrhundert beurteilt sie Objekte, organisiert Veranstaltungen und prägt das Gedächtnis des Kantons mit. Ob es ihr Traumjob ist? «Ja.»

Webarchiv lädt zum «schneugge» ein

Das Projekt «meineindustriegeschichte.ch» wurde 2014 gestartet. Die Verantwortlichen wollten damit mehr Aufmerksamkeit auf die reichhaltige Industriegeschichte des Kantons lenken. Aufgrund mangelnder Fläche für eine physische Ausstellung wurde das Projekt als Webarchiv aufgezogen. Zeitzeug:innen sollten dem Museum von sich aus Objekte, Fotos und ihre Geschichten zur Verfügung stellen. Doch nur wenige Personen ergriffen die Initiative. Deshalb begann Hornung Anlässe wie das Erzähl-Café zu organisieren, bei dem Geschichten vor Publikum erzählt werden. Durch Gespräche im Nachgang werden anwesende Zeitzeug:innen zur Teilnahme animiert.

«Oft ist den Leuten nicht bewusst, wie spannend ihre Geschichte ist.»


Für die Videos im Webarchiv ist Hornung beispielsweise zu Besuch beim Chauffeur einer Färberei, bei einer Fabrikarbeiterin oder einer Direktrice aus der Textilbranche. Diese Videos werden auf das öffentlich zugängliche Webarchiv hochgeladen und sollen Lust darauf machen, zu «schneugge», wie Hornung sagt.


Mit solchen Flyern wird nach Thurgauer Zeitzeug:innen gesucht.



In ihrem Büro im Schloss Frauenfeld bewirtschaftet Petra Hornung das Webarchiv.

«Oft ist den Leuten nicht bewusst, wie spannend ihre Geschichte ist», erklärt Hornung. Bei den Interviews versucht sie eine Wohlfühlsituation zu schaffen. Mit ihrer gelassenen und professionellen Ausstrahlung gelingt es ihr, die Momente einzufangen, in denen die Menschen lachen, zögern oder weinen.

Faszination Oral History

Diese Art von Geschichtsforschung wird Oral History – also mündlich erzählte Geschichte – genannt. Oral History begleitet Petra Hornung bereits seit ihrem Studium. Als Studierende nahm sie an einer Führung des Frauenstadtrundgangs Zürich teil. Sie war hell begeistert. So sehr, dass sie selbst ein Teil davon sein wollte. Gesagt, getan – kurze Zeit später führte auch sie Rundgänge durch. Zudem wirkte sie bei einem Buchprojekt des Vereins mit, bei dem es um die Gastronomie in Zürich ging. Hornung führte Gespräche, beispielsweise mit einem Nachtklubbesitzer. Sie war fasziniert von Oral History: «Ich merkte, wie spannend und vielschichtig es ist, wenn jemand sein Leben erzählt.»

Es ist eine Mischung aus Sprache und Geschichte – zwei Disziplinen, die gemäss Petra Hornung nicht unbedingt trennscharf sind: «Sie beeinflussen und befruchten sich gegenseitig.» Kein Wunder, dass es schwer war, sich für eine der beiden Studienrichtungen zu entscheiden. Schlussendlich war es zuerst Germanistik im Hauptfach, bevor sie zu Geschichte wechselte.

Im Studium kam die gebürtige Zürcherin zum ersten Mal bewusst mit Industriekultur in Berührung. Im Rahmen eines Praktikums beim Schweizer Heimatschutz befasste sie sich mit der Umnutzung von Industriebauten. Nach kurzem Überlegen erinnert sie sich an eine Verbindung zur Industriekultur, die weiter in ihrer Vergangenheit zurückliegt. Sie wuchs in einem kleinen Einfamilienhaus in Oerlikon auf, wo früher auch Industrie war. «Diese Häuser wurden gebaut, um die Arbeiter ruhig zu halten. Man gab ihnen ein kleines Häuschen und ein wenig Land, um etwas anzubauen», erzählt sie.

Es gibt noch viel zu erzählen

So gesprächig wie die Projektleiterin sind die Partizipierenden eher selten: «Die Leute haben oft eine Hemmschwelle.» Das sei besonders bei Menschen mit schwierigeren Schicksalen der Fall. Eine von ihnen ist eine alleinerziehende Mutter aus Italien, die ihre Arbeitsstelle zum Teil für wenige Rappen mehr pro Stunde wechselte.

Werden Zeitzeug:innen gefunden, gibt es weitere Herausforderungen. Die Personen haben ihre Geschichte teils schon an unterschiedlichen Veranstaltungen erzählt. So seien die Erinnerungen fast schon vorbereitet, sagt die 40-Jährige. «Das wäre nicht im Sinne von Oral History.»

Auch über die Erhaltung der Videobeiträge für künftige Generationen macht sich Hornung Gedanken. «Was in 50 Jahren ist, wissen wir nicht», sagt Hornung. Pläne für die nähere Zukunft gibt es jedenfalls bereits: Man möchte Geschichten aus möglichst vielen Bezirken und Regionen des Kantons sammeln. Personen mit den verschiedensten Tätigkeiten sollen zu Wort kommen.

«Die Industrie hat hier Lebensläufe geprägt.»


Petra Hornung hat also noch vieles vor. Der Blickwinkel soll geöffnet werden. Der Thurgau sei mehr als ein Apfel- und Landwirtschaftskanton. «Die Industrie hat hier Lebensläufe geprägt. Es gibt noch viele Geschichten zu erzählen.»


Niels Bossert, *2000, studiert Kommunikation, mit Vertiefung Journalismus, im 6. Semester an der ZHAW. Den Grundstein, um das Studium anzugehen, legte er an einer ehemaligen Stätte der Industriekultur. In einer ehemaligen Schaffhauser Strickmaschinenfabrik absolvierte er erfolgreich die Abschlussprüfungen für die Berufsmaturität.

Davide De Martis, *1999, studiert Kommunikation, mit Vertiefung Journalismus, im 6. Semester an der ZHAW. In seiner Kindheit erhielt er durch die Arbeit seiner Mutter, Grossmutter und zweier Grosstanten bei der Christian Fischbacher AG in Rebstein einen Einblick in die reiche Kultur der St. Galler Textilindustrie.

Das Portrait entstand 2023 im Rahmen einer Kooperation von Industriekultur Spot mit dem IAM, Institut für Angewandte Medienwissenschaft an der ZHAW, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.