Ralph Hirt – «Wer die Gegenwart verstehen will, muss die Geschichte kennen»



Text & Bilder: Dilan Maden und Torill Sigg

Das Bergwerk Käpfnach ist ein ehemaliges Braunkohle- und Mergel-Bergwerk in Horgen im Kanton Zürich. Mit einer gesamten Stollenlänge von 80 km ist es das längste Bergwerk in der Schweiz. Nach der letzten intensiven Nutzung während des Zweiten Weltkriegs wurden die Arbeiten im Bergwerk 1947 eingestellt. Der 1982 gegründete Bergwerksverein Käpfnach richtete ein Museum ein und machte einen Teil der Stollen der Öffentlichkeit zugänglich. Heute steht das Bergwerk mit der 1,4 km langen Stollenbahn interessierten Besucher:innen offen.

Ralph Hirt ist seit 2008 als Bergwerkführer im Bergwerksverein Käpfnach tätig. Zwischen Kohle und Schwefel erzählt er von seiner Faszination für die Industriekultur und erweckt mit Geschichte und Mythen das längste Bergwerk der Schweiz zum Leben.



Mit der rot-gelben Barbara-Bahn fährt Ralph Hirt regelmässig Besucher:innen ins Bergwerk Käpfnach.


Angekommen beim Stollenmundloch fällt uns sofort die grosse Aufschrift über dem Eingang auf: «Glück auf» und darüber Schlägel und Eisen. Ralph Hirt erklärt den deutschen Bergmannsgruss. Dieser drückt den Wunsch aus, auf Erzgänge zu stossen und nach der Arbeit wieder gesund aus dem Berg herauszukommen. Während wir im Stollen die ausgestellten Industrielaternen und die Details darum herum betrachten, bereitet Hirt im Anbau auf der linken Seite bereits die rot-gelbe Bergbahn für eine kurze Fahrt vor.

Im Stollen selbst ist es angenehm kühl und dunkel, wenn man sich von der Ausstellung der Laternen entfernt. Den Kopf muss man gelegentlich einziehen, da man diesen sonst am Gestein anschlägt. Wieder zurück beim Eingang rüsten wir uns mit Helm und Taschenlampe aus. Bei der Einfahrt entdecken wir noch den Namen «BARBARA» auf der Rückseite der ersten Bahn. Die Geschichte dahinter erfahren wir etwas später, 30 Meter unter der Erde.


Wie «en fräche Siech» Ralph Hirt zur Vereinsversammlung einlud

Ralph Hirt, 63, wuchs in der Nähe von Horgen auf, ist hauptberuflich Mediensprecher bei der Kantonspolizei Zürich und engagiert sich seit 2008 im Bergwerk Käpfnach. Lachend erzählt er, wie es dazu kam.



Auf der Karte des Bergwerks Käpfnach ist ersichtlich, wie gross die Stollenanlage ist und welche Teile überhaupt noch zugänglich sind.

Draussen auf der Terrasse habe er gesessen, als jemand mit dem Fahrrad vorbeigefahren sei und ihm zugerufen habe, ob er das Bergwerk Käpfnach kenne. «Zuerst dachte ich, ‘de fräch Siech’ will am Sonntagabend Ware verkaufen», erzählt Hirt und entschuldigt sich sogleich für seine Ausdrucksweise. Anders als gedacht habe ihm der Fahrradfahrer erklärt, dass sich Hirts Terrasse direkt über dem Bergwerk befinde, und ihn kurzerhand zu einer monatlichen Vereinsversammlung des Bergwerks eingeladen. Diese machte Ralph Hirt Eindruck: «Es war eine tolle Mannschaft und kosten tut das Engagement im Bergwerk nichts ausser Freizeit. Also habe ich gedacht, ich probiere das mal aus», meint er. Seither engagiert sich Hirt im Bergwerk Käpfnach und spielt eine aktive Rolle für dessen Erhaltung.


Geschichten von Heiligen und Mördern

Ralph Hirt macht Führungen im Bergwerk, ist verantwortlich für die Hauszeitung und ausserdem in der Werkstatt tätig. Vor Leuten sprechen ist für den extrovertierten Hirt kein Problem. Er geniesst die gespannten Blicke der Besucher:innen und inszeniert die Führung mit Elan und Witz. Voller Begeisterung erklärt er, wie Kohle entsteht, und erzählt die Geschichte der Mine sowie Geschichten aus der Mine. Man merkt schnell: Hirt hat ein Talent fürs Geschichtenerzählen. Die Worte, das Timing, die Intonation: Alles stimmt. So schildert er beispielsweise, wie er seinen Schlüssel im Bergwerk verlor, ihn verzweifelt suchte und erst beim zweiten Anlauf wiederfand. Ob dies nur Glück oder der Schutzpatronin der Bergleute – eben jener heiligen Barbara – zu verdanken war, weiss er selbst nicht.

Ralph Hirt hat aber auch Gruselgeschichten auf Lager, wie diejenige von Kowalski, einem polnischen Bergarbeiter. Dieser habe einen Kumpel mit einer Lore, einem Transportgefährt für die abgebaute Kohle, geköpft. Der Grund: Beide waren in die schöne Serviertochter der lokalen Beiz verliebt. Seither rumpelte und knatterte es täglich um Mitternacht im Stollen des Geschehens. Die Bergleute waren so verängstigt, dass niemand mehr die Nachtschicht in diesem Stollen übernehmen wollte. Also beauftragte der Bergwerksbesitzer Max Zschokke einen Journalisten, der den Ursachen dieser Geräusche auf den Grund gehen sollte. Bald schon fand er heraus, dass der Gotthard-Express genau um diese Zeit durch einen nahe gelegenen Tunnel fuhr und die Geräusche wohl daher rührten. Doch eines Nachts stand der Journalist am geschlossenen Bahnübergang. Mitternacht war bereits vorüber, weshalb er den Bahnhofvorstand fragte, warum zum Henker der Bahnübergang noch geschlossen sei. Der Gotthard-Express müsse ja bereits durchgefahren sein, er habe ihn schliesslich im Bergwerk gehört. Nein, habe der Bahnhofvorstand erwidert, der Gotthard-Express habe heute eine halbe Stunde Verspätung.


«Aus der Geschichte kann man lernen»

Ralph Hirt lebt für Geschichten und Geschichte, das wird im Gespräch schnell klar. «Ich bin der Überzeugung, dass man aus der Geschichte lernen kann», sagt Hirt. Wenn man die Gegenwart verstehen wolle, müsse man die Geschichte kennen, davon ist er überzeugt. Als Beispiel nennt er die Arbeitsbedingungen: «In den 1940er-Jahren haben die Bergleute 12 Stunden pro Tag in den engen, stickigen Stollen geschuftet. Die Arbeit war körperlich sehr anstrengend und gefährlich. Heute wäre das unvorstellbar.»

«Wenn du nicht weisst, wie es früher war, erkennst du den Fortschritt nicht.»


Man müsse industriekulturelle Güter und und damit verbundenes Wissen der Nachwelt erhalten, damit diese auch den Fortschritt erkenne, erklärt er weiter. «Wenn du nicht weisst, wie es früher war, erkennst du den Fortschritt nicht», sagt Hirt und bringt ein weiteres Beispiel: «Wenn es in 300 Jahren keine Autobahnen mehr gibt, muss man 300 Meter davon bewahren und darauf Führungen veranstalten.» Das Erhalten von industriekulturellen Gütern, die einen wichtigen Einfluss auf die Geschichte einer Region oder einer Gesellschaft hatten, ist für ihn ein zentrales Anliegen. Hirt möchte die Geschichte konservieren, sie erlebbar machen und damit den Besucher:innen helfen, das Hier und Jetzt besser zu verstehen.



Ralph Hirt kennt das Bergwerk Käpfnach und den Besucherstollen wie seine Westentasche.



Dilan Maden, *1998, studiert Kommunikation mit Vertiefung Organisationskommunikation im sechsten Semester an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Sie interessiert sich für Kultur und hat sich daher mit grosser Freude auf die Suche nach industriekulturellen Schätzen und ihren Konservator:innen begeben.

Torill Sigg, *1998, studiert ebenfalls Kommunikation mit Vertiefung Organisationskommunikation im sechsten Semester an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Wohnhaft in Winterthur kennt sie die stadtbildprägenden industriekulturellen Zeitzeugen und hat sich mit Freude tiefer mit der Industriekultur befasst.


Das Portrait entstand 2022 im Rahmen einer Kooperation von Industriekultur Spot mit dem IAM, Institut für Angewandte Medienwissenschaft an der ZHAW, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.