Roman Wild – «Als Kurator verknüpfe ich verschiedene Fäden zu einem stimmigen Ganzen»




Text & Bilder: Deborah Nydegger und Bettina Zipper

Roman Wild ist gebürtiger Zürcher und hat Geschichte studiert. Noch während des Studiums hat ihn die Faszination für die traditionsreiche Textilindustrie gepackt. Heute arbeitet er mit viel Engagement und Herzblut als Kurator im Textilmuseum St. Gallen. Neben der Wissensvermittlung ist er unter anderem auch als Texter für das Museum tätig. 1878 gegründet, befindet sich das Textilmuseum an der Vadianstrasse, im Herzen von St.Gallen – einer alten Textillandschaft. Seit mehr als 1‘000 Jahren werden dort Stoffe und Stickereien für den Export hergestellt.

Neugierig und ungeduldig: So beschreibt sich Roman Wild selbst. Die Suche nach greifbarer Historie war der Auslöser für sein Interesse an der Textilindustrie. Heute ist er Kurator am Textilmuseum St. Gallen.



Im Textilmuseum befindet sich ein alter Webstuhl, der für Ausstellungszwecke immer noch benutzt wird.

Researcher, Texter, Projektleiter, Moderator, Kurator – einfach gesagt: Roman Wild ist der versierte Generalist des Textilmuseums St. Gallen. Er ist der Allrounder, der Mann, den man für alles einsetzen kann. Und das gefällt ihm. Bei Roman Wild laufen verschiedene Fäden zusammen. Es ist seine Aufgabe, die Forderungen der Auftraggebenden, des Museums und der Besuchenden zu berücksichtigen und diese in die Planung einer Ausstellung einfliessen zu lassen.

Aber damit nicht genug, er muss auch seriöser Wissenschaftler und rhetorisch gewandt sein, ein Verständnis von Zahlen haben und gleichzeitig Augen und Ohren offenhalten, damit die Sammlung im Textilmuseum erweitert werden kann. Wild beschafft sich ständig neues Fachwissen und übersetzt dieses verständlich für Laien. Er liest sich in verschiedene Themengebiete ein und lernt mit jeder Ausstellung Neues dazu – ganz nach dem Motto: «Wer rastet, der rostet.»


Sprudelnde Begeisterung

Die Begeisterung für die Textilindustrie ist nicht zu übersehen, wenn Roman Wild von seinem Beruf erzählt. Seine Hände sind stets in Bewegung und unterstreichen das Gesagte. Er gestikuliert, weiss sich gekonnt auszudrücken und zieht so die Zuhörenden in seinen Bann. Dank seinen Anekdoten und Stories, die manchmal auch etwas poetisch klingen, wird das Erzählte nahbar und konkret. Dieses Feuer für Textilkultur brennt seit seinen Jahren als Geschichtsstudent.

Damals entdeckte der Mann vom linken Zürichseeufer in Rüschlikon seine Leidenschaft für die Textilindustrie. Auf der Suche nach angewandter und lebendiger Historie stiess Roman Wild auf eine Lücke in der Geschichtsschreibung: die ehemalige Seidenindustrie für eine exquisite Klientel im 19. Jahrhundert. Die Geschichte dieser damals riesigen Industrie in Zürich ist grösstenteils aus dem kollektiven Gedächtnis der Schweizer:innen verschwunden und verstaubt in den Estrichen ehemaliger Textilfamilien. Diese Wissenslücke weckte in ihm das Bedürfnis, mehr über diesen ehemals wichtigen Wirtschaftssektor der Schweiz zu erfahren. In seiner Abschlussarbeit kam er in Kontakt mit der Schweizer Familie Schwarzenbach, die das weltweit grösste Textilunternehmen besass. «Die Kennedys der Schweiz», wie Roman Wild diese Familie bezeichnet, ermöglichten ihm die erste greifbare Begegnung mit der Textilindustrie.


Textilien als Geschichtserzähler:innen

Für Roman Wild sind die Textilien auch ein Spiegelbild der Schweizer Geschichte. Bei genauem Betrachten der Textilindustrie erkennt man komplexe und wichtige historische Aspekte der Schweiz: beispielsweise wie Textilien ihren Teil zum Reichtum der Schweiz beigetragen, wie sich die Stoffe durch die Industrialisierung verändert haben oder wie sich die Konsumkultur der Schweiz entwickelt hat. All diese Entwicklungen können anhand der Veränderungen der Textilien festgemacht und konkret aufgezeigt werden.

Konkret und einfach sollen auch die Ausstellungen im Textilmuseum sein. Für Roman Wild ist es die zentrale Aufgabe eines Museums, zeitlose und relevante Fragen zu stellen. Die materiale Kultur und die Anschaulichkeit sollen die Neugierde der potenziellen Besuchenden wecken und sie dazu einladen, sich mit Themen zu befassen, denen sie sonst nie begegnet wären.

«Ich grabe dort, wo ich stehe.»


Roman Wild ist ausserdem leidenschaftlicher «Jäger und Sammler von verlorenen Schätzen»: einer, der auf der Suche nach Antworten Bücher wälzt, so lange in Quellen sucht, bis sich ein Bild einer Geschichte abzeichnet und sich die einzelnen Puzzleteile zu einem grossen Ganzen zusammenfügen. Diese Suche, dieser Wissensdurst, ist es Wild auch wert, sich wochenlang in Bibliotheken zu verschanzen. Seine Entdeckungen und Erfahrungen übersetzt er in Wort und Bild und will diese einem Laienpublikum verständlich näherbringen.


Der Drahtseilakt im Museum

Die Arbeit im Museum ist aber auch ein Spagat zwischen wissenschaftlichen und künstlerischen Ansprüchen. Diese Erfahrung machte Roman Wild etwa bei den Vorbereitungen der aktuellen Ausstellung «Weisses Gold»: Die Schau ist eine künstlerische Installation von Martin Leuthold, einem renommierten Stoffdesigner. Gleichzeitig soll aber auch die industriehistorische Perspektive der Textilgeschichte von St. Gallen aufgezeigt werden. Diese zwei Punkte sinnvoll miteinander zu verknüpfen, war eine Herausforderung für Roman Wild.




Roman Wild in der Ausstellung «Weisses Gold», die er mitentwickelt hat. In den Händen hält Roman Wild das Begleitheft, das er extra für die Ausstellung «Weisses Gold» konzipiert hat.



Natürliche Leine, die für die Leinwandproduktion verwendet wurde.

Doch solche Herausforderungen reizen ihn und machen seinen Alltag zu dem, was er ist: spannend und abwechslungsreich. Das Vorurteil, Museen seien langweilig, entkräftet Roman Wild schon allein mit seiner Persönlichkeit: Als neugieriger Mensch würde er es nicht aushalten, jeden Tag denselben Aufgaben nachzugehen. Die Person und die Energie eines Kurators werden häufig auf die Probe gestellt, denn man produziert oft auf den letzten Drücker, muss das Maximum aus einem immer kleiner werdenden Budget herausholen; währenddessen sollte die Kreativität auf Abruf funktionieren. Diese Forderungen lassen Familie, Freizeit und Hobbys oft hintanstehen.

Roman Wild ist es ein Herzensanliegen, sein Wissen zu vermitteln. Falls es ihm im Museum doch einmal langweilig werden sollte, sieht er seine Zukunft auch als Wissensvermittler an einer Universität oder in der Erwachsenenbildung. Er ist offen für neue Ausrichtungen und Herausforderungen – auch hier wieder ganz nach dem Motto: «Wer rastet, der rostet.»



Als neugieriger Mensch würde Roman Wild es nicht aushalten, jeden Tag denselben Aufgaben nachzugehen.



Bettina Zipper, *1997, studiert Kommunikation an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Die ersten Berührungspunkte mit der Textilindustrie hatte Bettina bereits als Kind. Regelmässig besuchte sie zusammen mit ihrer Grossmutter, die als Schneiderin tätig war, die Stoffläden in St. Gallen, um Ausschau nach den schönsten St. Galler Spitzen zu halten.

Deborah Nydegger, *1999, ist ebenfalls Studentin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und studiert Kommunikation. Ihre Patentante ist nebenberuflich Weberin und verkauft ihre Textilien auf dem Markt. Als Kind durfte Deborah ihr oft dabei zusehen, wie sie dieses alte Handwerk mit einer faszinierenden Genauigkeit ausübte.


Das Portrait entstand 2022 im Rahmen einer Kooperation von Industriekultur Spot mit dem IAM, Institut für Angewandte Medienwissenschaft an der ZHAW, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.