Ruedi Baer – «Ich wollte einfach mal etwas 'Richtiges' machen» 




Text & Bilder: Selim Jung und Leandra Reiser

1946 in Glarus geboren, studierte Ruedi Baer Betriebswirtschaft an der HSG. Danach rutschte er in die Unternehmensberatung und die Informatik. Davon verstand er damals noch nichts: «Als Berater lernte ich erst, was ich überhaupt berate.» Als er 2000 Präsident des Saurer Museum und Oldtimer Club wurde, krempelte Baer vieles völlig um. Er stellte einen Businessplan auf, dessen optimistischste Variante nach einem Jahr weit übertroffen war. Über 10’000 Leute besuchen nun das Museum jährlich, wovon der Verein hauptsächlich lebt.

Ruedi Baer ist Präsident des Saurer Museum und Oldtimer Club und ein bekanntes Gesicht in Arbon. Der engagierte Pensionär wollte eigentlich Konditor werden, liess sich aber ein Leben lang von seiner Neugier treiben und ist noch lange nicht wirklich pensioniert.


 
«Wir wollten mit dem Museum den ehemaligen Saurer-Mitarbeitern den Stolz auf ihre geleistete Arbeit zurückgeben.»  

Wer etwas über Ruedi Baer erfahren will, lernt sofort Ruedi kennen. Noch bevor wir ihn überhaupt persönlich treffen, springt via E-Mail bereits der ansteckende Begeisterungsfunken des engagierten 76-Jährigen über: «Wer mit dem Saurer Museum zu tun hat, wird unbarmherzig geduzt.» Kaum begrüsst, finden wir uns auf einer Museumsführung wieder. Baer ist voll in seinem Element. Wir schlängeln uns durch das alte, überbaute Industrieareal, während er die Entstehung der Firma Saurer erklärt. Wie ein gewisser Arnold B. Heine um 1905 Arbon in ein Stickerei-Mekka verwandelte – bis zur Stickereikrise. Wie Heine pleite ging. Und wie daraufhin Adolph Saurer kam und ganz Arbon zu einer Maschinenfabrik machte. Die Wörter sprudeln nur so aus Baer heraus, er zeigt auf ein Backsteingebäude hier, ein anderes dort. «Das war einmal ein Kraftwerk, das den Strom für das ganze Fabrikareal produzierte. Heute ist hier drin eine Musikschule, drüben gibt’s eine Beiz und gegenüber ein Fahrzeugdepot.» Es scheint, als gäbe es keinen einzigen Fleck, über den er nicht eine Geschichte zu erzählen wüsste.


«Dinge einfach 'pützlen' und auf ein Podest stellen wollen wir nicht.»



Kaum betreten wir das Saurer Depot, steigt uns der Geruch von Maschinenöl aus dem fleckigen und mit Eisenspänen übersäten Holzboden in die Nase. Feuerwehrautos, Stickmaschinen, ein alter Schneepflug – die geschichtsträchtigen Motoren stehen dicht aneinandergereiht. Baers Überzeugung ist, dass ein Kulturgut, das einmal genutzt wurde, nur dann einen Wert hat, wenn es wieder funktioniert: «Dinge einfach 'pützlen' und auf ein Podest stellen wollen wir nicht.» Im Einsatz stehen die Sechszylinder-Motoren aber nur zu Werbezwecken. Oder als Requisiten: «Einmal schauten tausend Leute zu, wie ich rückwärts mit dem Postauto auf eine Theaterbühne fuhr», erzählt Baer stolz. Einer seiner fahrbaren Schützlinge war gar im Spielfilm «Mein Name ist Eugen» zu sehen: «Sowas ist viel mehr als Kultur. Das ist ein Totalerlebnis.»


«Ich bin nur gwundrig»

Detailliert erklärt Baer im Museum, wo wir jetzt angelangt sind, die Reissfestigkeit von Dessous-Stoffen – obwohl er selbst noch nie an einer Nähmaschine gesessen hat. «Ich bin nur gwundrig.» Diese Neugier ist es, die ihn stets antreibt. «Als kleiner Junge wollte ich Konditor werden. Torten verzieren, das hat mich fasziniert.» Stattdessen hiess es, der Bub müsse in die Schule. Baer liess sich aber treiben. Hatte nie einen Lebensentwurf, der weiter reichte als bis zum nächsten Tag. Mit 50 lernte er noch Lastwagenfahren, obwohl er damit gar nichts am Hut hatte: «Ich wollte einfach mal etwas 'Richtiges' machen.» Ein Bekannter wies ihn auf den Saurer-Club hin, meinte, die hätten so Laster, Baer solle doch Mitglied werden. «Also ging ich an deren Hauptversammlung – und fand den Club furchtbar.» Ein «Puff» sei er damals gewesen, mit Hellraumprojektoren und null Ideen. Das teilte Baer dem Verein mit. Und wurde prompt als neuer Vorstand gewählt: «Ich wollte nur ein wenig aufräumen. Daraus sind jetzt 22 Jahre geworden.» 



Ruedi Baer zeigt, erklärt, begeistert – und das freiwillig. 2014 erhielt das Saurer Museum den europäischen Museumspreis «Silletto» für seine aussergewöhnliche Freiwilligenarbeit.


Betrieben wird der Verein komplett ehrenamtlich. «Wir sind mit Abstand das grösste Museum der Schweiz, das nur Freiwillige beschäftigt», sagt Ruedi Baer. Als er Präsident wurde, waren es noch zwölf. Heute sind es über 90, die meisten pensioniert. «Dann bleiben sie 20 Jahre und man muss ihnen nicht immer 'hinenohseckle'», erklärt Baer die Vorteile des Engagements von Saurer-Mitgliedern mit weissen Haaren. Ein Antrag auf unterstützende Beiträge der Thurgauer Regierung ist aktuell zwar hängig, «doch wir brauchen das Geld nicht, nehmen es aber gerne.» Was sie damit anstellen würden? «Es gäbe uns mehr Sicherheit.» Die Mietkosten der prominenten Lage direkt am See schienen vor ein paar Jahren eine unüberwindbare Hürde zu sein. «Wir wussten: Jetzt müssen wir eine ganz andere Nummer schieben.» Heute läuft das Geschäft so gut, dass der Verein ständig neue Ideen umsetzt – wie ein neues Besucherzentrum und ein Archiv. «Man wird fast etwas übermütig», sagt Baer und schmunzelt.


Er muss bremsen

Der Museumsdirektor tüftelt ständig, denkt zukunftsorientiert, verknüpft seine Ideen systematisch: «Wissenserhalt ist mein grösstes Anliegen. Viele Vereinsmitglieder sind in ein paar Jahren wahrscheinlich gestorben – womit alles Knowhow verloren geht.» Dem will Baer entgegenwirken: «Die Industrialisierung, welche die kleine, enge Schweiz auf den Kopf gestellt hat, ist unglaublich spannend. Von dieser Geschichte und davon, wie die Maschinen funktionieren, sollen auch meine Enkel erfahren.» Eines seiner Projekte besteht darin, alte Motorenpläne zu digitalisieren. Allerdings musste Baer aus gesundheitlichen Gründen einen Gang herunterschalten. Kürzlich erlitt er ein Aneurysma und brauchte eine neue Bauchschlagader. «Wenn meine Aorta platzen würde, hätte ich noch fünf Minuten zum Adieu-Sagen, meinte mein Arzt.» Als er diese Worte hörte, dachte er ans Museum: «Was würde geschehen, wenn ich nicht mehr zurückkäme?»



«Die alten Postautos sind natürlich immer sehr beliebt», beantwortet Ruedi Baer die Frage, auf welche Ausstellungsstücke er besonders stolz sei. 


Um das Wissen zu erhalten und Kontinuität zu sichern, tritt Baer in zwei Jahren vom Präsidium zurück. Langweilig wird ihm nicht: «Ich wa schon immer begeisterter Modelleisenbähnler. Als ich Museumsdirektor wurde, wanderten meine Lokomotiven in eine Kiste.» Diese hole er wieder hervor. Doch Führungen wird er weiterhin anbieten: «Vor allem, wenn sie einen brauchen, der Französisch redet.» So viele Talente, so viele Interessen. Was ihn so lange im Saurer Museum gehalten habe, seien die Menschen, sagt Baer beim Verlassen der Ausstellung. «Zusammen haben wir dieses Museum aus dem Nichts geschaffen.» Und ausserdem, er gibt es zu: «Die Aufmerksamkeit – etwa wenn das Schweizer Fernsehen hier drehen will – tut einfach gut.»


Leandra Reiser, *1996, studiert Kommunikation an der ZHAW in Winterthur und möchte im Kulturjournalismus Fuss fassen. Zwischen den Backsteinmauern im alten Arboner Industrieareal war sie schon oft unterwegs. Diese bilden nebst ihrer spannenden Geschichte auch eine optimale Kulisse für tänzerische Bildstrecken.

Selim Jung, *1997, studiert ebenfalls Kommunikation an der ZHAW in Winterthur. Nach seinem Studium möchte er einen Job bei einem Printmedium oder beim Fernsehen finden, in dem er sich mit Gesellschaftsthemen auseinandersetzen kann. Am meisten Spass macht ihm das Schreiben von Artikeln zu Sozialem und Umweltthemen.


Das Portrait entstand 2022 im Rahmen einer Kooperation von Industriekultur Spot mit dem IAM, Institut für Angewandte Medienwissenschaft an der ZHAW, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.