Sarah Fuhrmann  – «Die Lokremise ist der urbanste Ort St.Gallens»



Text & Bilder von Aline Baumgartner und Miriam Weber    



Neben dem Eingang der Lokremise sticht einem der Wasserturm ins Auge. Dieses Wahrzeichen der Industrialisierung entstand 1906 und wurde als Wasserspeicher der Lokremise benutzt. Heute enthält er eine begehbare Raumskulptur, realisiert vom Schweizer Künstler Christoph Büchel. «Taubendreck, Zerstörungen durch Vandalismus, alles wurde so belassen, wie es Büchel angetroffen hat», erzählt Sarah Fuhrmann. Die Ausstellung kann nur von einer Person aufs Mal besucht werden und ist jeden Sonntag oder auf Anmeldung zugänglich.

︎︎︎ Videobeitrag
Einst ein Depot für Dampflokomotiven, heute Hotspot der Kulturszene St.Gallens: die Lokremise. Hier heizt Sarah Fuhrmann seit November als Co-Geschäftsführerin ein. Was sie sich zum 120-jährigen Geburtstag der Lokremise wünscht und wie sie die industrielle Geschichte vermittelt.



Seit einem halben Jahr ist Sarah Fuhrmann als Co-Geschäftsführerin der Lokremise tätig. Foto: Aline Baumgartner



Früher fuhren hier Züge ein, heute stylishe Bank-Tisch-Konstruktionen der «Brasserie». Foto: Aline Baumgartner

Auf den Gleisen, auf denen früher die Lokomotiven zur Reparatur einfuhren, sitzt Sarah Fuhrmann auf einer rollenden Bank-Tisch-Konstruktion, die an das erinnert, was vor hundert Jahren war. Sie nimmt einen Schluck von ihrem Cappuccino und schaut hinaus zum grossen Innenhof, den man durch die Glasfront des runden Gebäudes sieht. Im Hintergrund fahren Züge in den Bahnhof ein.

«Die Lokremise ist der urbanste Ort St.Gallens»


Wer St.Gallen mit dem Zug besucht, hat eine perfekte Sicht auf die grossen weissen Buchstaben, die vor dem runden Gebäude prangen – die «Hollywood-Wand». Auf die ist Fuhrmann besonders stolz. Sätze wie «Diese Zeit braucht Eier – Frohe Ostern» oder «Das Licht ist scheisse» waren zu lesen. Provokationen an einem prominenten Platz, dessen ist sich Fuhrmann bewusst.

«Ich mag hintersinnige Sprüche und versuche, das Ganze interessanter zu machen», sagt Fuhrmann. So schaffte es Mitte Februar auch der Spruch «Change your diet for the climate, eat the rich» auf die Hollywood-Wand. «Im Theater spielten sie den ‹Volksfeind›, und der Spruch wurde im Stück zitiert, also passte das», erklärt Fuhrmann, ohne ihre Miene zu verziehen.



Die Hollywood-Wand vor der Lokremise sorgt regelmässig für Aufsehen. Foto: Aline Baumgartner


Das französische Restaurant «Brasserie» erinnert an die Zugverbindung von St.Gallen nach Paris. Foto: Aline Baumgartner


Wie die Kunst in die Lok kam

Im Jahr 2008 kaufte der Kanton St.Gallen das in die Jahre gekommene Gebäude. Um die Lokremise oder kurz die Lok zu betreiben, mussten neue Strukturen festgelegt werden; so wurde die «Stiftung Lokremise» ins Leben gerufen. Zusammen mit Christian Mühlestein leitet Sarah Fuhrmann heute das Kulturzentrum als Co-Geschäftsführerin der Stiftung. Ihre Aufgabe ist es, alle Kulturprojekte unter einen Hut zu bringen.

Das sei nicht immer einfach, erzählt die 45-Jährige. Theater, Kino, Museum und Restaurant sind eigenständige, eingemietete Betriebe. «Es gibt sehr viele Interessen hier», sagt Sarah Fuhrmann.



Auf der Suche im Archiv: Viel Bildmaterial von früher gibt es nicht. Foto: Aline Baumgartner

Nebst dem Organisatorischen ist Fuhrmann damit beschäftigt, Führungen zu kuratieren. Die Rundgänge sollen den Besucher:innen die industriekulturelle Geschichte nahebringen. «Der Umbau zum Kulturzentrum interessiert die Leute auch heute noch sehr», erzählt sie. So wird die Geschichte der Betonsäulen, der hohen Fenster und der alten Drehscheibe vermittelt.

Schlitteln auf den Schlackehügeln

Die Industriekultur, wie sie in der Lokremise gelebt wird, wurde ihr in die Wiege gelegt. Aufgewachsen ist Sarah Fuhrmann nämlich in der Nähe von Dortmund, im Ruhrgebiet, der ehemaligen Industrie-Hochburg Deutschlands. «Als ich ein Kind war», erzählt sie, «fuhr ich Schlitten auf Hügeln, die mit Schlacke und Resten von Kohle aufgeschüttet wurden.»

«Ich bin mit der Industrie aufgewachsen, mittlerweile gibt es aber Techno-Clubs und Kunstausstellungen in den stillgelegten Stahlwerken»


Fuhrmanns Heimat hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. «Ich bin mit der Industrie aufgewachsen, mittlerweile gibt es aber Techno-Clubs und Kunst-Ausstellungen in den stillgelegten Stahlwerken.»

Zurück zur Industrialisierung: Nicht nur in Deutschland schritt sie im 19. Jahrhundert kräftig voran. Auch die Ostschweiz profitierte vom damaligen Boom. Die Lokremise wurde zwischen 1903 und 1911 in der Blütezeit der Textilindustrie zur Wartung von Lokomotiven erbaut. Auf den 21 Stellplätzen des Ringdepots wurden die Loks gepflegt, bevor sie St.Gallen, die damalige Textilhauptstadt, mit Waggons voller Stoffe in Richtung Paris verliessen.

Wie der Kultstatus weiterlebt

Nach der Einstellung der Dampflokomotiven nahm auch die Popularität von deren Wartungsstätte ab. Die Züge wurden elektrifiziert und die Remise bald überflüssig. In den 1980er Jahren stand die Lokremise grösstenteils leer, bis 1999 Kunstwerke der Zürcher Galerie Hauser & Wirth einzogen. Nach ihrem Auszug 2004 wurde die Lokremise für eine Vielzahl von Veranstaltungen genutzt.

Vier Jahre später, nach einer erfolgreichen Volksabstimmung, kaufte der Kanton St.Gallen die Lokremise und leitete die Geburtsstunde des heutigen Kulturzentrums ein. Seit 2010 beherbergt sie Theater, Tanz, Kunst und Film sowie ein Restaurant, heute die «Brasserie».

Als in der Lok nicht geheizt wurde

Für Sarah Fuhrmann ist die Lokremise ein Vorzeigeprojekt für den Kulturreichtum der Stadt. «Die Lokremise ist der urbanste Ort St.Gallens», sagt sie. Ursprünglich studierte sie in Leipzig Theaterwissenschaften und Anglistik. Vor 15 Jahren liess sie sich in St.Gallen nieder, ganz in der Nähe der Lokremise. Sie kam sogleich in Kontakt mit dem Kulturzentrum.

«Ein Freund von mir spielte in der Lokremise im Theater mit», sagt Fuhrmann.  Das war 2008, noch vor dem grossen Umbau, der ein Jahr später erfolgte. «Damals wurde noch nicht geheizt. Er war nach den Theaterproben immer verfroren und kam sich bei uns zu Hause aufwärmen», erzählt sie.

Es begann mit den Containern

Die erste Zusammenarbeit von Fuhrmann mit dem Team der Lok ergab sich, als sie beim Theater St.Gallen als Produktionsleiterin angestellt war. Das Theater St.Gallen hatte eine Produktion in einem Container konzipiert, mit dem sie durch das Rheintal zog. Fuhrmann übernahm die Tourneeleitung, Startpunkt war die Lokremise.

Bald schon steht das 120-jährige Jubiläum der Lokremise an. Der Geburtstagswunsch von Fuhrmann: eine Zusammenarbeit von allen Kulturpartnern des Hauses. «Mir gefällt es, wenn die Lokremise voller Menschen ist», sagt sie und sieht noch viel Potenzial, um die Industriekultur aufleben zu lassen.


Miriam Weber, aufgewachsen in Thun, kam bereits in ihrer Jugend mit der Industriekultur in Kontakt. Im Selve-Areal, wo einst ein Metallwerk stand, arbeitete sie im Kulturlokal «Konzepthalle 6». Heute studiert die 23-Jährige Kommunikation mit Schwerpunkt Journalismus an der ZHAW und ist am liebsten mit Stift und Kamera unterwegs.

Aline Baumgartner, *1998, studiert Kommunikation an der ZHAW in Winterthur. Als St.Gallerin ist sie mit der Lokremise bereits in ihrer Schulzeit in Berührung gekommen und bei mehreren Tanzvorstellungen eingeschlafen (Dummheit einer 13-Jährigen). Sie besucht das Kulturzentrum bis heute gerne – nicht nur, wenn sie darin ein Interview führt. 

Das Portrait entstand 2023 im Rahmen einer Kooperation von Industriekultur Spot mit dem IAM, Institut für Angewandte Medienwissenschaft an der ZHAW, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.