Steven Schneider – «Ich bin begeistert von der Leistung unserer Vorfahren»



Text & Bilder von Jade Ament und Rukiyye Besler    



Der Journalist Steven Schneider, Jahrgang 1964, ist für den Bildband «Elektrisiert» in die Rolle des Industriekultur-Vermittlers geschlüpft. Sein Anspruch bei der Konzeption war hoch: das technische Thema «Elektrizität» facettenreich und spannend zu erzählen. Das Buch soll sowohl ein Fach- als auch ein Laienpublikum auf eine Reise in die Anfänge der Industrialisierung mitnehmen, die Betrachter:innen begeistern und verführen. Durch zahlreiche Kontakte zu Stromkonzernen bekam der Autor Zugang zu Archiven, die in Vergessenheit zu geraten drohen.

Der Journalist und ehemalige Lehrer Steven Schneider ist von der Schweizer Stromgeschichte «elektrisiert», weshalb er 2017 einen Bildband unter diesem Titel veröffentlichte. Wie der begnadete Schreiber zum Kulturvermittler wurde, erklärt er im Interview.



Fühlt sich in Archiven und Bibliotheken wohl: Steven Schneider hat als Kind jedes Buch der Schulbibliothek gelesen.


Steven Schneiders erster Spielplatz war eine Fabrik im aargauischen Beznau, neben der er aufwuchs. Sein zweiter die Schulbibliothek. Schneider hat immer gerne gelesen, aber die Schulbank wollte er nur so lange wie nötig drücken. Auf Drängen seiner Mutter wurde er Primarlehrer. Eine sichere Stelle, ein sicheres Gehalt. Das war Schneider zu wenig. Er wollte die Welt sehen. Mit 24 war es dann so weit: Zufällig stiess er auf eine Anzeige. Ein Ehepaar mit Wurzeln in der Schweiz stand dem Sultan von Oman nahe und suchte einen Privatlehrer. Damals konnte man noch nicht im Internet nachschauen und so wälzte Schneider den Atlas und fand heraus, wo der Oman überhaupt liegt.

Eine Reise mit vielen Weggabelungen

Das war ein Traum aus tausendundeiner Nacht. Es ging um einige wenige Kinder der Elite und Schneider konnte den Unterricht so gestalten, wie er es für richtig hielt. Der Deal kam schnell zustande. Bereit für das Abenteuer gab er alles weg, was er besass. Doch dann kam alles anders als geplant.

Schneider lehnt sich lässig zurück und schmunzelt: «Als ich ankam, erfuhr ich, dass mein Chef in der ‹Kiste› war. Ich konnte meinen Job gar nie richtig antreten.» So unerwartet wie das Unterfangen an sich, fand der Expat Schneider Kontakte zu Leuten aus aller Welt und wurde «irrsinnig warmherzig» aufgenommen. «Wir spielten zusammen Fussball und meine Freunde wollten einen Profivertrag für mich abschliessen. Ich begann meine Abenteuer aufzuschreiben und in die Heimat zu schicken. Ich hatte ja nichts zu tun.» Zwei lokale Zeitungen, für die er auch schon früher geschrieben hatte, druckten seine «Briefe aus Oman» ab. Ende der 1980er-Jahre war das Sultanat vielen Schweizer:innen kaum ein Begriff und Schneider wusste damals schon, wie man packende Geschichten erzählt. Die ganze Region wartete gespannt auf jeden neuen Brief, seine Kolumne war ein Hit.

Der Weg zum freien Journalisten

Neun Monate später war auch der Traum vom Fussballprofi vorbei. Schneider kam zurück in die Schweiz, weil er kein Geld mehr hatte. Er wandte sich an die Redaktionen und angelte sich eine Stelle als Journalist. Die erste Zeit war sehr lehrreich und mit vielen Freiheiten verbunden. Schneider wollte immer nah am Menschen dran sein. Reportagen, die Schicksalsschläge aufzeigen, lagen ihm mehr als Berichte von inszenierten Medienterminen. Er arbeitete sehr viel, verdiente aber wenig. Dann lernte er seine Frau kennen, ebenfalls eine Journalistin. Über eine Agentur fand Schneider Zugang zur lukrativen Strombranche, kehrte dem Journalismus aber nie ganz den Rücken. Mit der Kolumne «Schreiber vs. Schneider», die auch heute noch in der Coopzeitung erscheint, wurde das Journalistenpaar bekannt.



Steven Schneider hat bei der Recherche für den Bildband «Elektrisiert» einige Archive durchforstet.



Ein Arbeiter im Kraftwerk Gösgen posiert vor einer riesigen Stahlkonstruktion. Es ist Schneiders Lieblingsbild.


Wie Schneider zugibt, verstand er zunächst nichts von der Stromwirtschaft und die «hard facts» interessierten ihn kaum. Auch hier waren es die «Soft-Themen», denen er einiges abgewinnen konnte: Welche Gefühle verbinden Menschen mit Technik? Wie werden sie dadurch verändert?

Schneider vermittelt mit Stromgeschichte auch Industriekultur

Das Buch «Elektrisiert» war eine Auftragsarbeit und ist beim «Hier und Jetzt»-Verlag erschienen. Die Idee dazu kam vom Verlagsleiter, der die Mittel dafür von einer Stiftung erhalten hatte. Ohne eine Stiftung sei kein Bildband in der Schweiz realisierbar, präzisiert Schneider. Da er bereits ein Buch für die Elektrizitätswerke Aargau geschrieben hatte und mit den «grossen Playern» der Strombranche vernetzt war, lag es nahe, Schneider ins Boot zu holen. Ihm wurden die Türen zu vielen Archiven geöffnet. 

«Die Leute sollen Lust bekommen, herauszufinden, was in den letzten 150 Jahren an ihrem Wohnort passiert ist.»


Als Autor des Bildbandes sieht sich Schneider als Vermittler von Industriekultur. Er wollte den Strom sichtbar machen und hatte viele Freiheiten bei der Gestaltung. «Ich möchte, dass sich die Leute inspirieren lassen von der menschengemachten Schweiz. Sie sollen Lust bekommen, herauszufinden, was in den letzten 150 Jahren an ihrem Wohnort passiert ist.»



Steven Schneider erklärt, wie rar kritische Aufnahmen in den Archiven sind. Er hat sie für «Elektrisiert» aufgespürt.


«Elektrisiert» enthält nie zuvor veröffentlichte Bilder, die identitätsstiftend wirken und die Industriegeschichte der Schweiz (be)greifbar machen. Auch hier waren es die Bezüge zum Menschen, die Schneider faszinierten: «Ich bin begeistert von der Leistung unserer Vorfahren. Was die alles erreicht, geleistet haben, ist Wahnsinn.» Besonders die Erschliessung der Wasserkraft beeindruckt ihn. Die Schweiz hatte nie Kohlevorkommen. Die Ingenieure aus der damaligen Zeit wussten aber, wie man die Topografie und die Wasservorräte nutzen konnte.

Auch die Schattenseiten der Schweizer Stromgeschichte

Bilder nehmen die Betrachter:innen auf Zeitreisen mit. Schneider zeigt neben den Sonnen- auch Schattenseiten der Stromgeschichte. Beispielsweise, wenn es darum ging, Stauseen zu bauen. Er schlägt die Seite auf mit dem Bild des Dorfes Innerthal am Wägitalersee, kurz vor dessen Überflutung. Das Dorf musste der Stromgewinnung weichen. «Die Menschen gingen erst, als der See volllief. Buchstäblich in letzter Sekunde. Im Bündnerland wurde im Namen des EWZ um ein Haar ein Friedhof zubetoniert – furchtbare Dinge!»

«Die Menschen gingen erst, als der See volllief. Buchstäblich in letzter Sekunde.»


Die Konzerne gehen sehr unterschiedlich mit ihren Archiven um. Eines war ein Riesenchaos, ein anderes wurde gerade aufgelöst. Die akribische Arbeit in den Archiven war für Steven Schneider eine Reise zurück in die Anfänge der Industrialisierung und zugleich eine Rückkehr zu den Spielplätzen seiner Kindheit, zu Fabriken und Bibliotheken.


Jade Ament, *1989, studiert Kommunikation an der ZHAW. Durch ihren Background als Chemie-Ingenieurin begeistern sie technische Themen. Sie hat zudem mehrere Artikel für das Fachmagazin der Elektrobranche «e-Trends» geschrieben. Sie sieht die Energiewende als eine der zentralen Herausforderungen dieses Jahrhunderts gerade auch im Bereich des Naturschutzes.

Rukiyye Besler, *1997, absolvierte ursprünglich eine Lehre im Medizinalwesen und studiert momentan Kommunikation an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Sie erkennt die Bedeutung von technologischen Errungenschaften, die Gesellschaften prägen und vorantreiben. Sie möchte diese weltweit nutzen, um die Entwicklungszusammenarbeit zu fördern.

Das Portrait entstand 2023 im Rahmen einer Kooperation von Industriekultur Spot mit dem IAM, Institut für Angewandte Medienwissenschaft an der ZHAW, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.