Ulrich Zimmermann  – «Unsere Herausforderung ist, dass wir viel zu viel wissen» 




Text & Bilder: Mirjam Hürlimann und Ali Salehi

Wo einst der Linthgletscher endete, begann die Geschichte der Textilindustrie im heutigen Zürcher Neuthal. Unternehmer Adolf Rudolf Guyer wählte diesen Standort nicht zufällig aus. Im Jahre 1825 erwarb er mit dem Kauf der Mühle «Müedspach» auch die Wasserrechte. Denn mit dem Wasser kam auch die Energie, die er für den Betrieb seiner 1827 eröffneten mechanischen Spinnerei benötigte. Heute, bald 60 Jahre nach der Stilllegung, führt der freiwillige Museumsführer Ulrich Zimmermann durch die nach dem Sonnenlicht ausgerichteten Fabriksäle.

Ulrich Zimmermann ist Textiler in der vierten Generation. Als Wissensvermittler im Museum Neuthal in Bäretswil setzt sich der 73-Jährige freiwillig und engagiert dafür ein, dass die Schweizer Textilindustrie und ihre Geschichte nicht in Vergessenheit geraten.



Ulrich Zimmermann an einer Rüti-Webmaschine. Hier entsteht Frottierwäsche.

Seit über drei Jahrzehnten halten rund 100 freiwillige Helferinnen und Helfer die Textil- und Industriekultur im Museum Neuthal am Leben. Einer von ihnen ist Ulrich Zimmermann: Ihm macht es Spass, in kurzer Zeit zu vermitteln, was mehr als ein Jahrhundert an Geschichte einschliesst. Gleichzeitig ist es aber auch seine grösste Herausforderung. Was er über die Baumwollspinnerei im Zürcher Oberland erzählt, wie lange er dies tut und wie sehr er ins Detail geht, ist abhängig davon, wen er begleitet. Schulklassen, Firmen auf einem Geschäftsausflug, Journalistinnen und Journalisten oder interessierte Privatpersonen kommen jeweils mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Zeitfenstern, denen sich der Wissensvermittler stets anpassen muss.


Altes Handwerk, vier Generationen

Ulrich Zimmermann lebt in Siebnen und ist pensionierter Textiler. Seine Berufung dürfte auch daher stammen, dass ihm die Textilindustrie in die Wiege gelegt wurde: Seine Eltern waren beide Textiler, mütterlicherseits gehört er bereits der vierten Generation an. Aber auch sein Grossvater väterlicherseits hatte als Commis Voyageur, also als Handelsreisender, hauptberuflich mit Textilien zu tun. Nach seiner Ausbildung als Textiltechniker mit Fachrichtung Spinnerei, Weberei und Zwirnerei an der Schweizerischen Textilfachschule (STF) war Ulrich Zimmermann zunächst als Textil- und Lufttechniker bei der Luwa AG angestellt. 1978 übernahm er die ZITEXTIL AG, die Zwirnerei und Weberei seines Vaters, die er mit viel Herzblut weiterführte. Weil die Textilbranche 1999 zusammenbrach, musste er schliesslich die eigene Firma in Vorderthal aufgeben. Danach war der heute 73-Jährige bis zur Pensionierung in der Maschinenfabrik Rieter in Winterthur als Sales Manager für China tätig. Eine Karriere, auf die er mit Stolz zurückblickt.



Der Kettfaden wird in einem Webstuhl in Längsrichtung aufgespannt.



Die Baumwolle muss zuerst kardiert und gekämmt werden, bevor sie weiterverarbeitet werden kann.


Mit viel Liebe zum Detail

Ulrich Zimmermann weiss mit Maschinen umzugehen, er kennt ihre Funktionen und Tücken. «Ich zeige euch nur eine Rüti-Webmaschine», sagt er, als er durch die weltweit grösste Sammlung ihrer Art führt. Dabei bleibt es jedoch nicht. Voll in seinem Element, präsentiert er eine Maschine nach der anderen, geht auf technische Details ein und vermittelt, warum die Webmaschinen, so ähnlich sie für Besucherinnen und Besucher wirken mögen, doch einzigartig sind. Man spürt seine Leidenschaft, wenn er auf die einzelnen Arbeitsschritte und Maschinenteile eingeht. Begriffe wie «Projektilgeschwindigkeit» oder «Lochkarte» sorgen spätestens nach der ersten Kaffeepause nicht mehr für verdutzte Blicke, sondern für Anschlussfragen zu kleinen, aber feinen Unterschieden, die auffallen.

Ein besonderes Highlight für die kleineren Besucher ist der Handwebstuhl. Hier können sie das Weberschiffchen mit der darin liegenden Schussspule von einer Webkante zur anderen schiessen. Mit viel Muskelkraft und der Wiederholung dieses Vorgangs entsteht so der Stoff. «Ich durfte eine Führung mit Erst- und Zweitklässlern machen. Weiter als zu diesem Handwebstuhl kamen wir mit der Besichtigung nicht, weil sich alle Schülerinnen und Schüler einmal ausprobieren wollten», erzählt Ulrich Zimmermann amüsiert. 



Ulrich Zimmermann (Mitte) zeigt, wie Besucherinnen und Besucher den Handwebstuhl bedienen können.

Der passionierte Textiler hilft im Museum Neuthal aber nicht nur mit seinen ehrenamtlichen Führungen. Er gehört auch einer Projektgruppe an, die die Vergangenheit der Spinnerei von Adolf Guyer-Zeller aufarbeiten möchte. So wollen sie herausfinden, aus welchen Herkunftsländern die Baumwolle stammte, die hier einst von den Spindeln gewickelt wurde. «Denn Baumwolle ist nicht gleich Baumwolle», so Zimmermann. Die einzigen europäischen Länder, die zu der Zeit Baumwolle in kleinen Mengen exportierten, waren Griechenland und Spanien. «Ob die Baumwolle aus Indonesien, Ägypten, Burkina Faso oder Pakistan stammt, und wie die Baumwolle gepflückt wird, ob von Hand oder maschinell, hat einen grossen Einfluss auf die Qualität wie auch die Verwendung des Rohstoffes.»


Aufhören kommt nicht in Frage

Heute, im Jahr 2022, ist die Schweizer Textilindustrie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Vom einst wichtigsten Industriezweig der Schweiz sind nur noch kleine Spinnereien und Webereien übriggeblieben, die ausgesuchte Nischenprodukte produzieren. Die Massenware, die zu Zeiten von Adolf Guyer-Zeller und Co. als Hauptexportware der Schweiz galt, wird nun vorwiegend in Asien produziert und verarbeitet. Obschon das Textilzeitalter in der Schweiz vorbei ist, hält Ulrich Zimmermann an seinem Lebenswerk und dem seiner Vorfahren fest. Zu seiner Motivation für die freiwillige Vermittlungsarbeit, die er leistet, sagt er: «Ich bin Textiler in der vierten Generation. Jetzt so aufzuhören, und das noch als Letzter, fände ich sehr schade.»


«Viele Jugendliche aber auch Lehrpersonen wissen nicht, woher unser Wohlstand kommt.»



Im Museum Neuthal hat der 73-Jährige nicht nur eine Freizeitbeschäftigung, sondern auch Kolleginnen und Kollegen gefunden, die seine Leidenschaft für die Textilindustrie teilen. Gemeinsam hauchen sie altem Handwerk wieder neues Leben ein und lassen die Öffentlichkeit ein prägendes Stück Schweizer Vergangenheit erleben.


Ali Salehi, *1995, studiert Kommunikation im finalen Semester an der ZHAW. Geschichte war stets sein Lieblingsfach, da seine Schwester, zu der er aufschaut, ein Geschichtsstudium an der Universität Augsburg absolvierte. Bevor seine Familie vor 22 Jahren in die Schweiz immigrierte, war sein Vater bei einem Industrieunternehmen in Teheran als Maschinenführer tätig.

Mirjam Hürlimann, *1999, ist angehende Absolventin des Studiengangs Kommunikation an der ZHAW. Die gebürtige Walchwilerin ist heute in der ehemaligen Industriestadt Winterthur zuhause. Sie stillt ihren Wissensdurst nach Vergangenem mit regelmässigen Museumsbesuchen und Literatur zur Schweizer Geschichte.


Das Portrait entstand 2022 im Rahmen einer Kooperation von Industriekultur Spot mit dem IAM, Institut für Angewandte Medienwissenschaft an der ZHAW, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.