Wanda Seiler – «Die Schweiz ist nicht denkbar ohne Migration»



Text & Bilder von Livia Betschart und Hannah Hitz    



Die Gebrüder Sulzer haben seit 1834 die Maschinenindustrie in Winterthur vorangetrieben und der Stadt damit zu Reichtum verholfen. Das Museum Schaffen befindet sich heute in einer ehemaligen Halle des Industriekonzerns. Was genau darin produziert wurde, ist nicht geklärt. Ein Teil muss eine Giesserei gewesen sein, denn heute sieht man noch die entsprechenden Vorrichtungen. Nicht nur der Raum für das Museum wurde also von Sulzer geprägt, sondern auch die Geschichten für die neue Ausstellung «Reality-Check! Arbeit, Migration, Geschichte(n)» (Arbeitstitel).

Wanda Seiler kuratiert die Ausstellung «Reality-Check! Arbeit, Migration, Geschichte(n)» (Arbeitstitel) im Museum Schaffen in Winterthur. Das Thema prägt die Stadt. Um den richtigen Zugang zu finden, wenden Seiler und ihr Team innovative Methoden an. Sie wollen individuelle Geschichten sichtbar machen.



Die Kuratorin Wanda Seiler freut sich darauf, für die neue Ausstellung Zeitzeug:innen zu interviewen. Foto: Livia Betschart


Früher dampfte und zischte es hier. Ein penetranter Metallgeruch lag in der Luft. Heute hört man Vögel zwitschern und riecht frischen Kaffee. Auch die Arbeitsbedingungen haben sich geändert. In der ehemaligen Produktionshalle von Sulzer auf dem Lagerplatz in Winterthur haben in den 1950er-Jahren Gastarbeiter aus Südeuropa schwere Eisenteile bearbeitet.



An der Decke des heutigen Cafés sind noch Originalteile der Sulzer Giesserei vorhanden. Foto: Hannah Hitz


Heute arbeitet Wanda Seiler als Kuratorin in der Halle, in der das Museum Schaffen seinen Ort gefunden hat. Unter ihrer Leitung wird voraussichtlich im Februar 2024 eine Ausstellung zum Thema Arbeit und Migration die Halle bespielen. Für Seiler ist «Reality-Check! Arbeit, Migration, Geschichte(n)» die erste grössere Ausstellung, die sie als Kuratorin leitet. Sie freut sich besonders, denn das Thema liegt ihr am Herzen. Seiler ist überzeugt: «Die Schweiz ist nicht ohne Migration denkbar. Bis heute wird das oft ausgeklammert.»

«Reality-Check! Arbeit, Migration, Geschichte(n)» ist aktuell noch in der Konzeptphase. Kaum etwas steht fest. Doch der Bildungsaspekt ist definiert: Die Ausstellung soll aufzeigen, wie das Wirtschaftswunder Schweiz möglich wurde. Die Vision und der Auslöser der Ausstellung gehören zusammen: «Wir wollen migrantische Geschichten sichtbar machen und damit die Erinnerungskultur in Winterthur diversifizieren», sagt Seiler.

«Die Schweiz ist nicht ohne Migration denkbar. Bis heute wird das oft ausgeklammert.»


Neben klassischer Vermittlung wie Schulklassenführungen soll im neuen Projekt auch Platz für innovative Zugänge sein. «Es ist uns wichtig, dass Besucher:innen partizipieren können und auch ihre persönlichen Geschichten in der Ausstellung einbringen können», sagt Seiler. Eine Möglichkeit sei eine Living Library. Dabei erzählen Zeitzeug:innen als «lebende Bücher» aus ihren Leben.


Expert:innen mit Migrationshintergrund gestalten die Ausstellung mit

Für Seiler und ihr Team ist es schwierig, den richtigen Zugang zu dem politisch aufgeladenen Thema zu finden. Denn es gibt unzählige Aspekte, die man aufgreifen könnte. «Eine Auswahl zu treffen und sich zu beschränken, ist nicht einfach», sagt Seiler. Auch steht sie vor Herausforderungen in der Vermittlung: «Die Ausstellung soll nicht zu akademisch zu sein und dennoch die Komplexität der Thematik aufzeigen.» Um diese Schwierigkeiten zu meistern, wurde eine Reflexionsgruppe einberufen. Die Gruppe umfasst sieben Expert:innen. Diese Personen haben entweder selbst eine Migrationsgeschichte oder sich schon vertieft mit dem Thema befasst. Die Zusammenarbeit mit so vielen Personen sei nicht immer einfach, aber eine grosse Bereicherung, sagt Seiler. Die Treffen mit der Reflexionsgruppe werden immer dokumentiert. Denn der Prozess soll nach dem Motto «Der Weg ist das Ziel» sichtbar gemacht werden. Für Seiler ist es vorstellbar, den möglichen Besucher:innen über ihren Newsletter oder Social Media die Zusammenarbeit zu zeigen. Eine andere Variante sei es, die Arbeit der Reflexionsgruppe in der Ausstellung sichtbar zu machen.

Neben der Reflexionsgruppe wurde für die Ausstellung die ehemalige Züricher SP-Kantonsrätin Sarah Akanji als Projektmitarbeiterin engagiert. Als Winterthurerin und diskriminierungssensible Aktivistin bringt sie eine weitere Perspektive ein. Seiler selbst ist in der Stadt Zürich aufgewachsen. Seit sie im Museum Schaffen arbeitet, hat sie Winterthur und dessen Geschichte richtig kennengelernt: «Ich weiss wohl mehr über die Geschichte der Stadt als viele, die hier wohnen.»



Das Museum Schaffen ist eines von fünf Museen, die von der Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte im Rahmen des Förderprogramms «Skalierung» gefördert werden. Foto: Hannah Hitz



Bis Ende Juni zeigte das Museum Schaffen in der Ausstellung «Stahl und Rauch» die Blütezeit und den Niedergang der Industrie in Winterthur. Foto: Hannah Hitz


Der Aspekt der Identität soll in «Reality-Check! Arbeit, Migration, Geschichte(n)» einen grossen Teil einnehmen. Zum einen sei das Thema präsent im Alltag der Besucher:innen, da einem eine Identität aufgrund seines Äusseren zugeschrieben wird. Zum anderen werde das Thema Migration unweigerlich mit Identität in Verbindung gebracht, sagt Seiler. Und weiter: «Jede Person hat viele Identitäten in sich drin. Bei migrierten Personen wird aber oft nur diese eine Seite angeschaut.» Für sie ist es wichtig, dass die Ausstellung zum Umdenken anregt.

Von Feminismus zu Industriekultur

Das Thema Migration war nicht Hauptbestandteil von Seilers akademischer Ausbildung. Sie hat einen Bachelor in Germanistik und Kunstgeschichte und im Master ihren Fokus auf Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft gelegt. Während dem Studium an den Universitäten Zürich und Wien hat sich Seiler stark für marginalisierte Stimmen interessiert. «Mich hat es gestört, dass in der Geschichts- und Kunstgeschichtsschreibung eine sehr lange Zeit immer nur Geschichten von weissen Männern über weisse Männer geschrieben wurden», sagt sie.

«Mein Antrieb ist es, unsere Gesellschaft demokratischer zu gestalten.»




Wanda Seiler findet das 19. Jahrhundert spannend, weil dort viele gegenwartsprägende Entwicklungen wie die Nationalstaatenbildung geschehen sind. Foto: Livia Betschart


Bereits im Studium setzte sie sich für eine Diversifizierung der Kunstgeschichtsschreibung ein. Vom Feminismus herkommend, hat sie sich dann immer mehr auch für Intersektionalität interessiert. Die marginalisierten Positionen seien vielschichtig. «Mein Antrieb ist es, unsere Gesellschaft demokratischer zu gestalten», sagt die Zürcherin. Während und nach dem Studium kuratierte sie verschiedene kleinere Ausstellungen. Dabei merkte sie, dass ihr manchmal der Gesellschaftsbezug fehlte. Genau diesen hat sie nun im modernen historischen Museum Schaffen gefunden. Die Besucher:innen sollen erfahren, woher viele Personen kommen, die aktuell in Winterthur arbeiten. Die Ausstellung «Reality-Check! Arbeit, Migration, Geschichte(n)» bringt somit Stimmen der vergangenen Industriekultur und der Gegenwart in die ehemaligen Sulzerhallen.


Livia Betschart, *2000, studiert Kommunikation an der ZHAW im Bachelor. Sie lebt seit dem Studium in Winterthur und besucht viele kulturelle Anlässe jeglicher Art. Einer ihrer Lieblingsorte ist der Lagerplatz, wo heute auch das Museum Schaffen zu finden ist. Das Interview mit Wanda Seiler hat Livia dazu angeregt, mehr über ihre eigene Familiengeschichte zu erfahren.

Hannah Hitz, *1999, besucht das BA-Studium Kommunikation an der ZHAW. Das Thema Migration fasziniert sie schon seit ihrer Jugend. Deshalb hat Hannah die Berufsmaturaarbeit zum Thema Integration von Asylsuchenden und Flüchtlingen im Bündner Arbeitsmarkt geschrieben. Auch aus familiären Gründen ist sie am Thema interessiert.

Das Portrait entstand 2023 im Rahmen einer Kooperation von Industriekultur Spot mit dem IAM, Institut für Angewandte Medienwissenschaft an der ZHAW, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.